Aus: Willi Wertheimer: Zwischen zwei Welten. Der Förster in Brooklyn. 1980² S. 76-85

  

Amtstätigkeit in Eubigheim von März 1919 bis 1924

  

Nun war ich also wieder zu Hause und nicht mehr Soldat. Der Erste Weltkrieg war vorüber. „Siegreich woll'n wir Frankreich schlagen" endete mit Deutschlands Nieder­lage. Einige Erinnerungsstücke brachte ich mit. Neben dem Entlassungsanzug, der mir nur halb passte, waren das ein Woilach, ein Paar Reitstiefel, eine Feldmütze, zwei Schul­terklappen aus dem Bestand des rheinischen Feldartillerie-Regiments Nr. 8 von Holtzendorff. Besondere Erinnerungen an die Kämpfe waren einige größere und kleinere Gra­natsplitter. Harmlos waren diese Dinge jetzt, die einst in oft großer Menge auf uns nie­derprasselten. Nachdem mit nervenzerreißendem Heulen die Granaten um uns ein­geschlagen hatten, surrten und fauchten diese Dinger glühend heiß uns um die Ohren, fetzten Äste von den Bäumen und hätten uns, wenn sie uns getroffen hätten, arg zu­gerichtet oder gar zerrissen. Wie durch ein Wunder kam ich immer heil davon und durch G'ttes Fügung blieb ich unverletzt. Nun lagen einige dieser Splitter, messerscharf gezackt, bei meinen Erinnerungsstücken — Gegenstände, die dem Frontsoldaten erst sehr teuer sind, dann aber daheim mit der Zeit an Wert verlieren, weil man mehr und mehr vom Kriegsgeschehen Abstand nimmt.  

Neben den Dingen, die mich durch den Krieg begleitet hatten: einem Sidur-Tefilla (Gebetbuch), einem Arba Kanfeth (kleinem Tallith mit Zizith-Schaufäden) und Tefillim (Gebetsriemen) hatte ich auch noch viele Feldpostbriefe von Eltern, Geschwistern, Ver­wandten und Bekannten. Da war dann auch noch meine Korrespondenz mit jüdischen und christlichen Mädchen und andere Kartengrüße, darunter einer von dem damaligen Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer. Dieser Gruß hatte in einem Liebes­gabenpaket der Stadt Köln gelegen. Außerdem besaß ich noch Erbauungsschriften von der Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums, Frankfurt, die ich von dort neben Päckchen mit koscheren Lebensmitteln bekommen hatte. Das waren die Überbleibsel des Krieges, die ich mitbrachte — und der Dank des Vaterlandes soll nicht vergessen werden, der uns gewiß war. — Es war aber von vornherein gut, nicht auf ihn zu warten, denn er erreichte uns nicht. Als man sich später der Juden in Deutsch­land erinnerte, da war es alles andere als Dank.

Am 1. März 1919 trat ich in den Dienst der badischen Landessynagoge, das ist der Oberrat der Israeliten in Baden mit Sitz in Karlsruhe. Von hier wurde ich an die kleine Gemeinde in Eubigheim gewiesen, und dort begann sich auch das Leben langsam vom Kriege zu erholen.

Die kleine Gemeinde, die nur aus einem guten Dutzend von Familien bestand, hatte auch dem Krieg ihre Opfer bringen müssen. Elias Hausmann, der frühere Lehrer der Gemeinde, war gefallen und hatte Frau und ein Kind hinterlassen. Auch Herr Julius Samstag kam nicht wieder und wurde von seiner Frau und seinen drei Kindern betrauert. Zum Militärdienst waren Sally Katzenstein und Herbert Siegel, Adolf Reich, Samuel Brückheimer und Sally Siegel eingezogen worden. Außerdem waren noch einige frü­here Eubigheimer, die verzogen waren, von ihren neuen Wohnsitzen zum Wehrdienst einberufen worden.

Als ich meine Tätigkeit in Eubigheim antrat, wohnten dort folgende jüdische Bür­ger: Fam. Samuel Brückheimer, Frl. Hannchen Buxbaum, Frau Freudenberger, Frau Jenny Hausmann mit Kind, Fam. Sally Katzenstein, Fam. Adolf Reich, Fam. Hermann Reich, Fam. Bernhard Reiß, Frau Samstag mit Kindern, Fam. Israel Siegel, Herr Hugo Stein, Frl. Ida Strauß und Sigbert Reich.  

Meine Unterbringung und Verpflegung waren die ersten Probleme für die Ge­meinde Eubigheim. Wo sollte der junge Lehrer wohnen und wo essen? In einer mit der Synagoge verbundenen kleinen Wohnung erhielt ich ein Zimmer, verpflegt wurde ich auf Kosten der Gemeinde in der Restauration Samstag. Nach einiger Zeit übernahmen die Familien abwechselnd meine Beköstigung. So hatte jede Familie eine gewisse Zeit die Ehre, den jungen Lehrer, den ausgehungerten kleinen Exsoldaten, zu füttern. Die Hausfrauen wetteiferten untereinander und gaben sich viel Mühe, mir das Beste vor­zusetzen; denn keine wollte in den Ruf kommen, schlechter zu kochen als die andere, jede wollte die Beste sein, und den Profit hatte ich. Es schien nur noch Leckerbissen zu geben, und ich kann nicht anders als den Damen, die mich damals bewirtet haben, das höchste Lob auszusprechen. Die jüdischen Hausfrauen von Eubigheim waren bekannt für ihre gute Küche und für ihre feine Bäckerei, aber auch für ihre Gastfreundschaft, die sprichwörtlich abrahamitisch zu nennen war. Noch heute denke ich gerne an die leckeren häuslichen Feinbackwaren: Makronen, Zimtsterne, Anisplätzchen, Springerle, Butterplätzchen und die verschiedenen Torten, ebenso an die feinen Weine und Liköre.  

Dieser Zustand währte aber nicht dauernd, er überstieg mit der Zeit finanziell die Kräfte der nicht begüterten Familien. Ich erhielt zuletzt ein gutes Dauerkosthaus bei Frl. Hannchen Buxbaum. Sie besaß neben der Synagoge ein kleines Häuschen, es ging mir auch bei ihr nicht schlecht.

Ich war noch nicht sehr lange in Eubigheim, als ich Mitte April meine erste feier­liche Amtshandlung hatte, die Bar Mizwa von Sigmund Reich, einem Sohn der Ehe­leute Siegbert und Ida Reich. Lehrerkollege Bloch aus Adelsheim hatte den Jungen für seinen großen Tag vorbereitet, da ja die Gemeinde Eubigheim durch den Tod von Leh­rer Hausmann bis zu meiner Ankunft verwaist war. In einer so kleinen Gemeinde war eine Bar-Mizwa-Feier ein seltenes Vorkommnis, weswegen auch die ganze Gemeinde an diesem Fest teilnahm. Der G'ttesdienst war recht feierlich, Verwandte der Familie waren von auswärts gekommen und Sigmund machte seine Sache gut. Zu Hause wurde bei vorzüglichen Speisen und Getränken recht froh gefeiert. Es wurde auch eine kleine Rede gehalten, die in den Toast ausklang: „Das jüngste volljährige Gemeindeglied möge, seines Bar-Mizwa-Tages immer eingedenk, ein guter Jude werden und bleiben, zu seinem eigenen Nutzen und zur Freude seiner Angehörigen." Sigmund bekam zu seinem Ehrentag, der auch ein Freudentag für die ganze Gemeinde war, zahlreiche Geschenke. Auch nichtjüdische Mitbürger gratulierten der Familie und dem Jungen. Das ganze Haus Reich war stolz auf diesen, und Frau Ida, meine spätere Schwägerin, fühlte sich sehr ge­ehrt, weil ihre gute Küche gerühmt wurde. Es war alles in allem ein schöner Tag und ein gelungenes Fest, und der Bar-Mizwa-Schabbath verlief in frommer und heiterer Stimmung. Für meine dienstliche Bemühung bekam ich einige Tage danach ein Geschenk, einen willkommenen Zuschuss zu meinem noch recht bescheidenen Gehalt, und ich war zufrieden. Solange ich in Eubigheim war, gab es keine Bar Mizwa mehr dort.

Meine erste Beerdigung, bei der ich eine Ansprache halten musste, war die von Frl. Keile. Sie wurde nicht in Eubigheim, sondern auf dem Bezirksfriedhof in Bödigheim bei­gesetzt. Dort wurden früher alle Verstorbenen der Gemeinde beerdigt, erst in den 80er Jahren bekam Eubigheim ein eigenes Beth Olam.  

Auch eine Hochzeit fiel in meine Amtszeit in Eubigheim, das Brautpaar war Sally Siegel und Betty Reis. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor, Sohn Bernd und Toch­ter Ilse. Auch sonst gab es in dieser Zeit noch Nachwuchs, bei Samuel Brückheimer kam noch ein Mädchen, und Frau Adolf Reich schenkte noch drei Buben das Leben, Ernst (mein Lieblingsneffe), Walter und Stefan.  

Meine Religionsschüler waren Sigmund Reich, Martha Reich, Nelly Reich, Florine Reich, Trude Katzenstein, Paula Siegel, Beate Brückheimer, Hertha und Liesel Samstag. Es waren wohlerzogene Kinder, Durchschnittsschüler. Manchmal musste ich wohl tadeln oder auch strafen, aber verdiente Strafe erweckte keinen elterlichen Protest, nur eine Ausnahme ist mir in Erinnerung.  

Die Eltern der Kinder waren religiös und wünschten, dass ihre Kinder etwas lern­ten. Als Anfänger im Amt gab ich mir die größte Mühe, und so ist anscheinend doch manches hängen geblieben. Jedenfalls konnte ich von ehemaligen Schülern, die hier in den USA verheiratet sind, hören: „Bei Willi Wertheimer hat man eben doch was gelernt, hebräisch lesen und schreiben, Tefilla übersetzen, biblische und jüdische Geschichte, man erhielt einen Grundstock in jüdischem Wissen, so dass man gut dem G'ttesdienst folgen kann."

Obwohl ich nominell Lehrer in Eubigheim war und auch dort meinen Sitz hatte, gehörte es zu meinen Obliegenheiten, auch die jüdischen Gemeinden Buchen, Hainstadt, Walldürn, Hardheim, Sennfeld, Adelsheim, Eberstadt, Bödigheim und Sindolsheim zu betreuen. Eubigheim, eine der zahlreichen jüdischen Zwerg-Landgemeinden, mit einer verhältnismäßig kleinen Anzahl schulpflichtiger Kinder, war allein nicht in der Lage, eine eigene Lehrerstelle zu unterhalten. Nur mehrere Landgemeinden in einem größeren Umkreis waren dazu in der Lage. So musste ich also in der Woche von Ort zu Ort fah­ren und Religionsunterricht erteilen sowie auch anfallende rituelle Handlungen vor­nehmen. Auf diese Weise erhielten die Kinder nur drei bis vier Stunden Religionsunter­richt in der Woche. Einer meiner Kollegen zum Beispiel erteilte in einer staatlichen jüdischen Volksschule im Rahmen von insgesamt 42 Lehrstunden zehn bis elf Stunden in jüdischen Fächern. Die Zahl der Unterrichtsstunden in den kleinen Landgemeinden hing von der Anzahl der Gemeinden im Bezirk und von der Anzahl der dem Bezirksrabbinat zur Verfügung stehenden Lehrer ab. Der Bezirksrabbiner fungierte natürlich als Inspektor für den jüdischen Religionsunterricht. Als solcher hielt er auch die ent­sprechenden Prüfungen ab. Die in meinen Klassen durch den seinerzeitigen Rabbiner Julius Greilsheimer durchgeführten Prüfungen verliefen meist recht gut. Bei seinem Vorgänger, Rabbiner Dr. Leopold Löwenstein, erzielte mein Vater immer die besten Prüfungsergebnisse des Bezirks.

Wie jeder Lehrer, so hatte auch ich eine Reihe guter und auch eine Anzahl weniger guter Schüler, solche, die mir durchwegs Freude bereiteten, und auch solche, über deren Verhalten ich mich bisweilen ärgern zu müssen glaubte. Da entfuhren mir als jungem Anfänger schon mal unbedachte Äußerungen. So reagierte ich einmal auf Störungen mit dem von meinen Lehrern vernommenen Ausruf: „Das ist mir in meiner 25-jährigen Praxis noch nicht vorgekommen!" Das wurde von den Schülern mit großer Heiterkeit quittiert, und ein Mädchen fasste sich ein Herz und rief mir zu: „Herr Lehrer, so alt sind Sie ja noch gar nicht!" Die junge Dame hatte nicht ganz unrecht, ich zählte damals gerade 25 Lenze.

Die frohesten Stunden in der Schule waren aber die Ausflüge. An einige kann ich mich noch gut erinnern. Einmal gingen wir nach Heinsheim, dort besuchten wir kurz den amtierenden Lehrer Zeilberger. Anschließend kehrten wir zu einem kurzen Trunk in der Gaststätte von Jakob Strauß ein und verzehrten unsere mitgebrachten Esswaren. Dann wanderten wir weiter zur Burg Ehrenberg und besuchten schließlich noch den altehrwürdigen Friedhof in Heinsheim.

Ein anderer Ausflug führte uns nach Bad Mergentheim; auch da gab es viel zu sehen. Da war das Schloss der Deutschordensritter, die Kirche, der Milchlingsbrunnen und der Kurpark mit seinen herrlichen Anlagen. Zum Schluss stiegen wir noch hinauf zum Waldeck-Cafe. Auch die Messe in Königshofen besuchten wir, den Stadtflecken Edelfingen und den großen Bezirksfriedhof Unterbaibach.

Ein weiterer Ausflug ging nach Jagsthausen - Wimpfen - Berlichingen. Das war ein romantischer Ausflug in die historische Vergangenheit. Wir besuchten die Schlösser und Burgen, in denen sich Götz von Berlichingen aufgehalten hatte, und wollten natürlich auch die berühmte eiserne Hand sehen. Ein Teil meiner Schüler aber kannte das Zitat, das dieser Ritter dem kaiserlichen Gesandten gab.

Noch viele historische Stätten waren von Eubigheim aus zu erreichen. Im Bauland und dem angrenzenden Odenwald hat sich der Bauernkrieg in besonders drastischer Weise abgespielt. Unsere Vorväter hatten damals die Zeche zu bezahlen, denn immer, wo es Krieg und Pest gab, da suchte man nach einem Sündenbock, und das waren dann die Juden. Nicht anders war es im und nach dem Bauernkrieg; mit Zwangstaufen, Ver­treibung, Beraubung und Mord mussten die Juden büßen. Es gab aber auch Ausnahmen und es kam vor, dass man Juden für Mithilfe im Kampf zu Schutzjuden ernannte und diesen dann das Aufenthaltsrecht in Dorf oder Stadt zuerkannte.

Dies alles erklärte ich auch meinen Schülern beim Besuch solcher Stätten, sie wur­den sehr nachdenklich, wenn ich ihnen von solchen Ereignissen vergangener jüdischer Geschichte erzählte. In der Zehntscheuer in Hardheim erzählte ich den Kindern von Zehnten, den die leibeigenen Untertanen dem Lehensherrn entrichten und ihm darüber hinaus noch mit unentgeltlicher Arbeitsleistung dienen mussten.

Ein großes Ereignis für die jüdische Gemeinde in Eubigheim war der Besuch zweier in Amerika ansässiger Schwiegersöhne der Familie Salomon Reich. Es waren der aus Ungarn stammende Charles Neumann mit seiner Carry und der aus Wenkheim in Baden stammende Metzger Grünebaum mit seiner Tochter. Ebenfalls aus Amerika zu Besuch war der Sohn von Israel Siegel. Das war in der Inflationszeit, und diese Familien waren für unsere Verhältnisse gut situiert. Da gab es für uns Männer feine, in Stanniol verpackte Zigarren und für die Kinder Bonbons.

Die Tochter von Grünebaum, Sylvia, verliebte sich in mich, wollte mich unbedingt heiraten und mit nach Amerika nehmen. Ich war jedoch damals noch zu jung und zu unerfahren, um diesen Schritt wagen zu können. Hätte ich aber damals dieses Wagnis unternommen, so wäre es mir vielleicht möglich gewesen, ein Vierteljahrhundert später meine 22 von den Nazis ermordeten Angehörigen vor diesem grausamen Schicksal zu bewahren. Sylvia heiratete später in Amerika. Als ich 1938 dort einwanderte, war sie zwar schon geschieden, aber sie war schon Großmutter.

In Eubigheim fanden ab und zu Sportfeste statt, zu denen viele Vereine aus der Umgebung in ihren verschiedenen bunten Uniformen erschienen. Den Abschluss dieser Feste bildete gewöhnlich ein Tanzabend. Im Anschluss an so einen Abend hatte ich ein­mal ein ganz harmloses Rendezvous mit einem Mädchen, das nicht unbekannt blieb und das mich schon am nächsten Tag im Ort zum Gegenstand eines mir als Judenlehrer nicht angenehmen Gesprächs machte. In meiner Not leugnete ich alles ab und schob es auf meinen Bruder Issi, der sich auch freiwillig als „Opfer" hergab. Das wurde dann auch geglaubt, denn mein Bruder war ein Draufgänger, und es machte ihm nichts aus, dass er das für mich auf sich nahm.

Auch meine Schülerinnen waren hübsche Mädchen — zwischen 13 und 15 — und manche Mutter dachte wohl, dass ich eines dieser Mädchen einst heiraten könnte. Ich interessierte mich für Florine Reich, die konnte sehr gut singen, aber auch für Martha Reich. Beiden und auch Beate Brückheimer erteilte ich eine Zeitlang Klavierstunden. Ich ließ mich aber nicht betören. Florine und Martha Reich wurden durch meine Heirat später Nichten von mir.

Eine Klavierstunde brachte damals 30 bis 55 Pfennig ein, das war nicht viel, aber doch ein willkommener Nebenverdienst. Einen solchen konnte ich ja auch brauchen, da ich mir Wäsche und auch Anzüge anschaffen musste. Als Lehrer war ich ja Repräsen­tant der jüdischen Gemeinde, und ich konnte nicht dauernd im gleichen militärisch­zivilen Entlassungsanzug herumlaufen.

Im Laufe der Zeit kannte ich alle Ortseinwohner und ich verstand mich recht gut mit ihnen. Das galt auch für den evangelischen und den katholischen Ortsgeistlichen. Die meisten Leute waren Landwirte, kleine Kaufleute, Handwerker und Gasthaus­besitzer. Die jüdischen Einwohner waren Handelsleute und betrieben lebhaften Pferde­lind Viehhandel. Es befand sich aber auch eine Eisenhandlung und eine Gastwirtschaft in jüdischer Hand, und Israel Siegel hatte eine Schäferei und Hermann Reich eine Schnapsbrennerei und Getreidegroßhandel.

Einige Male im Jahr wurden Pferde aus Norddeutschland in Eubigheim ausgeladen, da herrschte dann sehr reger Betrieb. Die Gutsbesitzer, Bauern und Pächter aus der Um­gebung kamen und es wurde lebhaft gekauft und getauscht. Jeder Viehhändler hatte seine Dörfer, in die er regelmäßig fuhr, um Zucht- und Schlachtvieh aufzukaufen. Es gab sozusagen ein Gentlemen's Agreement, dass kein Glaubensgenosse in den Handels­bezirk des anderen eindrang. In seinem Bezirk hatte der Händler seinen Agenten, den Schmuser oder, wie er auf hebräisch heißt, den „Baal Sasser". Dieser musste diejenigen ausfindig machen, die ein Stück Vieh kaufen, verkaufen oder tauschen wollten. Er musste aber auch dem Händler zur Seite stehen, damit der Kauf abgeschlossen werden konnte. Das brachte dem Schmuser eine schöne Summe ein, aber oft ging es auch nicht so glatt, und manches Geschäft kam nicht zustande oder musste rückgängig gemacht werden. Zu­weilen wurden Schuldscheine ausgestellt oder sonstige Bedingungen unterschrieben; das führte dann oft zu unliebsamen Auseinandersetzungen. Mancher Handelsmann, der für den Viehhandel nicht genügend Fachkenntnisse besaß, um Wert und eventuelle Krank­heiten der Tiere zu erkennen, kam unter die Räder und ging bankrott. Dann kam es vor, dass das Anwesen eines solchen Händlers mit einer Hypothek belegt wurde oder verloren ging und der Betreffende verarmte. Hatte ein solcher Händler Glück, dass Verwandte ihm beisprangen, so konnte er froh sein und eine neue Existenz gründen. Oft waren aber Viehhändler auch gleichzeitig Metzger. Eine Metzgerei war ein gutes Fundament, um etwaige Rückschläge beim Viehhandel abzufangen. Der Handel hatte eben nicht nur die nach außen sichtbaren Vorteile, sondern hatte auch sein Risiko, ganz besonders in Krisenzeiten. Die Zeiten waren freilich vorbei, in denen man wie im Mittelalter einem Juden, bei dem man in Schulden war, etwas andichtete und ihn dann ausweisen konnte. Es war jetzt so, dass die schlechte Wirtschaftslage viele ruinierte. Ende des vorigen Jahrhunderts suchten deshalb viele Juden ihr Heil in der Auswanderung. Geschenkt wurde ihnen in den USA auch nichts, aber mit zähem Fleiß konnte man dort zu etwas kommen. Viele dieser Emigranten konnten aber wenige Jahrzehnte danach ihren Verwandten, die in der Zeit des braunen Terrors in Deutschland in direkte Lebens­gefahr gerieten, zur rechtzeitigen Auswanderung verhelfen.

Im Mittleren Osten waren die Juden seit alters her gute und tüchtige Handwerker. Die Einwanderer, die von Jemen und vom Irak nach Israel kamen, brachten das Handwerk mit ins Land. Der Jude dort hatte auch eine sicherere Existenz als der im Abend­land. Hier wurde dem Juden die Ausübung eines „ehrsamen Handwerks" verboten, es blieben für ihn nur das Geldgeschäft und der Handel, denn auch Grunderwerb war ihm versagt. Wenn es auch einige Tüchtige im Handel und auch im Geldgeschäft zu etwas brachten, der große Teil war auf kleine Geschäfte angewiesen, zum Teil sogar auf Hau­sierhandel, und stand somit auf unsicheren Beinen. Wollte man konkurrenzfähig sein, so musste viel auf Kredit verkauft werden und mancher kam durch faule oder gerissene Kunden unter die Räder. Nichtsdestoweniger redete man aber dem Volk ein, der Jude ist ein Händler, durch Gaunereien reich geworden, und arbeiten will er nicht. Dass diese Behauptung nicht stimmt, wird noch wiederholt aus diesen Aufzeichnungen zu sehen sein.

Die Eltern der heranwachsenden Generation waren aber nun einsichtiger und lie­ßen den Kindern eine sorgsame Ausbildung zuteil werden. Vielen wurde das Studium ermöglicht, und schon gab es jüdische Ärzte, Zahnärzte und sonstige Akademiker. In Süddeutschland waren auch Juristen nicht selten und, im Gegensatz zur preußischen Truppe, gab es da auch jüdische Offiziere. Die Geschichte zeigt uns, dass diese Juden gute Führer, Ärzte und Juristen waren. Aber auch auf diesem Gebiet wurde mit Lügen operiert und man sagte: Die Juden erschleichen sich Titel und Stellungen. Jeder den­kende Mensch hätte aber doch merken müssen, dass man, um Arzt oder Jurist zu wer­den, sich erst durch fleißiges Studium die Kenntnisse aneignen muss, zu erschleichen gibt es da nichts. Die Vorfahren derer, die solche Lügen verbreiteten, hatten aber den Juden den Beitritt zu den Zünften und Innungen verwehrt und machten den Juden erst zum Händler. Alle diese Lügen dienten zu allen Zeiten nur dem gemeinen Antisemitismus.

In vielen kleinen Ortschaften war die Gruppe der jüdischen Bevölkerung alles an­dere als reich, so auch in Eubigheim. Wenn auch einige Juden über Grundbesitz verfüg­ten, so reichte der gerade dazu aus, sich schlecht und recht davon zu ernähren. Niemand war aber als begütert zu bezeichnen, am wenigsten der Lehrer.

Um mir die Wege in die vielen Nachbargemeinden, die ich betreuen musste, zu er­leichtern, schaffte ich mir ein Fahrrad an, das ich später gegen ein DKW-Motorrad ver­tauschte. Dies war aber nicht das ideale Verkehrsmittel. Es gab häufig Reparaturen, die in den Landgemeinden durchwegs von Schlossern besorgt wurden, deren Kenntnisse am Motor damals sehr mangelhaft waren. Benzinverbrauch und Reparaturen gingen sehr ins Geld.

Um meine sehr bescheidenen Lehrerbezüge aufzubessern, gründete ich mit meinem Bruder Issi, der damals auch in Eubigheim wohnte, ein Engros-Geschäft unter dem etwas anspruchsvollen Namen: Eubighelmer Engros-Vertrieb Gebr. Wertheimer. Gummi­absätze Marke Continental, Excelsior- und Kongo-Gummisohlen und anderen Schuh­macherbedarf umfasste unser Warenangebot, und wir führten in weitem Umkreis die Tubenschuhcreme „Ego" ein. Das Unternehmen brachte aber nicht den erhofften Ge­winn. Im Gegenteil, in der Inflationszeit und in der anschließenden Stabilisierungszeit verloren wir viel Geld an zahlungsunfähige und -unwillige Kunden. Daher trat mein Bruder auf meinen Rat eine Stelle in der Eisenwarenbranche an, in der er auch die Lehre gemacht hatte. Ich liquidierte das Geschäft, um mich nach einer lukrativeren Stelle um­zusehen, die mir erlaubte, in den Hafen der Ehe zu steuern. Inzwischen ging ich weiter meinen Amtsgeschäften nach.

Mein Bruder Juda, auch Julius genannt, der auch den Eisenhandel erlernte, hatte in Nürnberg ein Geschäft. Durch Fleiß und Tüchtigkeit brachte er es zu etwas, wurde wohl­habend und hatte ein eigenes Haus, welches in der Nazizeit zerstört wurde. Er konnte sein Geschäft zunächst in der Hitlerzeit noch fortführen, wurde aber dann gezwungen, es an seinen Reisenden, einen korrekten Jungen Mann, zu verkaufen. Zu seinen besten Kunden zählte ein Architekt und Bauunternehmer bei Nürnberg, der ihm Rabitzgewebe, Bauwerkzeuge und Geräte, Drähte und Stifte abkaufte. Dieser Unternehmer war ein Bruder des berüchtigten Gauleiters und Herausgebers des auf antisemitischem Niveau stehenden judenhetzerischen „Stürmers", Julius Streicher. Der Bauunternehmer bestellte meinen Bruder zu Geschäftsabschlüssen immer dann, wenn sein Bruder, der Gauleiter, nicht anwesend war.

An den Schabbathen hielt ich nach dem Vormittagsg'ttesdienst für die Gemeinde­mitglieder in der Wohnung von Fräulein Ida Strauß einen belehrenden und erbauenden Vortrag, eine sogenannte Schiur, über ein Thema aus den reichen jüdischen Wissens­gebieten. Anschließend begab man sich zum Frühschoppen bei der Schabbath-Wirtin Frau Anna Samstag. Dort unterhielt man sich über die Ereignisse der Woche und poli­tisierte, aber man achtete streng auf die Beobachtung der Schabbath-Gesetze.

Am Anfang meiner Amtstätigkeit sah ich mich genötigt. Siegbert Reich auf die Ungehörigkeit seines Rauchens am Schabbath aufmerksam zu machen. Er entschuldigte sich aber damit, dass er Asthma habe, er müsse zur Erleichterung seiner Atmung Asthmakräuter rauchen, was aber gleichfalls nicht erlaubt ist. Siegbert Reich hatte in seinen jungen, gesunden Jahren als Kanonier gedient und als solcher eine Auszeichnung er­halten, weil es ihm einmal gelang, ein Geschütz ganz allein einen Berg hinaufzuziehen. Ein Eubigheimer Bürger namens Uhl bat Reich einmal um Tabak für seine Pfeife. Der gab ihm nicht nur Tabak, sondern er stopfte ihm gleich seine Pfeife — mit Asthmakräutern. Am nächsten Tag sagte Uhl zu Reich: „Dein Tabak ist schlechter als Kleeheu!"

Am Nachmittag des Schabbath ging man in der Umgebung von Eubigheim spazie­ren. Die Kinder wurden dabei angehalten, den Schabbath nicht durch Pflücken von Blumen oder Ausreißen von Gräsern zu entweihen. Kam dem Lehrer zu Ohren, dass einer seiner Schüler oder Schülerinnen das Verbot übertrat, erhielten sie eine Strafe, die entweder in Nachsitzen oder in einer Schreibarbeit bestand. An Halbfeiertagen wie Purim, Chanukah, Lag Beomer, Chaimischah Assar Bisdiwat ging es aber auch manch­mal recht fröhlich in der Schule zu.

Zur Abwechslung spielten wir auch oft Theater im „Gasthof zum Löwen". Die Schüler, insbesondere die Mädchen, gaben sich große Mühe, um gut zu spielen und um die Zuschauer zufriedenzustellen.

Manchmal fuhr ich mit den Handelsleuten in die Nachbarorte mit, um dabeizusein, wenn sie Geflügel, Eier, Landbutter und Obst kauften. In den Monaten Juli und August war der Handel mit Grünkern die Hauptbeschäftigung der Handelsleute und das brachte guten Gewinn.

Um diesen Geschäften nachkommen zu können, hielten sich die Händler ein leichtes Fahrzeug, wie sie auch von Gutsbesitzern und Mietkutschern benützt wurden. Vom Volk wurden diese Gefährte Judenchaisen genannt. Diese Viktoria-Chaisen benutzte man auch zu Besuchen von Ämtern in der Stadt und zu Verwandtenbesuchen in der Umgebung.

Im Ort kannte man jedermann und man wechselte mit jedem, den man traf, einige freundliche Worte. Die Bäckerjungen von Hornung, flinke und freundliche Söhne from­mer Eltern, machten auch anderen Leuten mancherlei Besorgungen und Botengänge. Gegenüber der Synagoge wohnten die Hofherren. Das waren fleißige Wühler, ihre lau­ten Diskussionen konnte man oft hören. Sie kauften die Synagoge, als sich in den drei­ßiger Jahren die Gemeinde auflöste.

Ich kam auch oft zum Postamt, kaufte da meine Wertzeichen, ganz besonders die Neuerscheinungen, deren es in der Zeit der Inflation sehr viele gab. Zuletzt hätte man ein Zimmer damit tapezieren können. Die beiden Postfräuleins, Emma Geiger und Fräulein Hügel, waren sehr nett und zuvorkommend, ebenso der Briefträger Scherer, der ein leidenschaftlicher Markensammler war.

Zuweilen kam ich auch in die Kolonialwarenhandlung der Witwe Weigand. Sie hatte einen Sohn, der Geistlicher werden sollte. Er wurde aber krank und half seiner Mutter im Laden. Mit ihm führte ich manches theologische Gespräch. Wegen ihres gei­stigen Niveaus interessierte mich auch Frau Wild. Sie war Inhaberin eines Textilgeschäfts, verkaufte auch Jagdwaffen und -ausrüstung. Ihre Tochter war Erzieherin in England. Mit den beiden unterhielt ich mich oft und gern über Kunst, Literatur und Religion.

Die Familie Zink besuchte ich auch öfter. Sie wohnte mir gegenüber, die beiden Brüder waren sehr fortschrittlich, sie dürften zu den begütertsten Einwohnern gezählt haben. Beide besaßen Häuser und waren auch im Börsenwesen bewandert. Auf ihren Rat kaufte ich eine Bankaktie von Braun-Konserven, an der ich einige hundert Mark verdiente.

Auch in den Gaststätten traf man sich mit den Stammgästen, trank ein Glas Bier und aß eine Brezel dazu. Zur Abwechslung gingen wir auch oft tanzen, aber da war es immer noch das alte Lied; ich hatte noch nicht tanzen gelernt. Ich hatte unmusikalische Füße, aber dennoch ließ ich mich oft herumschieben. Als ich meine Frau kennen lernte, änderte sich das, sie tanzte gern und gut Walzer, und im „Gasthaus zum Lamm" wurde ich unter den Klängen der Musik zum Tanz „gezwungen".

Die politische Lage und die Folgen der Inflation veranlassten viele junge Leute, nach den USA oder nach Kanada auszuwandern. In den zwanziger Jahren wanderten Her­bert Siegel, Ludwig Brückheimer und Siegfried Reich aus. Siegfried änderte in Amerika seinen Namen und war dann Fred, durch meine Heirat wurde er mein Neffe. Er hatte in Tauberbischofsheim die höhere Schule besucht und dann in Mannheim eine Stelle bei der Zigarrenfabrik Apfel angetreten. In den USA konnte Fred sich durch Fleiß und Sparsamkeit Wohlstand erwerben, er vergaß seine Angehörigen in Europa nie. Manche andere Auswanderer, denen es auch gut ging, ließen oft nichts von sich hören. Das Geld lag ja in den USA auch nicht auf der Straße, aber tüchtige und unternehmungslustige Menschen kamen vorwärts.

Meine zukünftigen Schwiegereltern starben noch während meiner Amtszeit in Eubigheim. Mein Schwiegervater, Salomon Reich, ein bescheidener, frommer Mann, war schlank und hochgewachsen und wurde der lange Salme genannt. Meine Schwiegermut­ter Fanny, eine gütige, aber schwerhörige Frau, erzog mit ihrer ältesten Enkelin Florine, der Tochter ihres ältesten Sohnes Adolf und seiner über alles geliebten Gattin Ja-nette, die große Schar der Kinder. Bevor meine Amtszeit in Eubigheim endete, entschloss ich mich nach langer Prüfung, die Witwe eines im Krieg gefallenen Kollegen, Jenny, geborene Reich, zu heiraten. Die Hochzeit fand in der „Traube" statt. Besitzer dieser Gastwirtschaft waren Herr und Frau Bamberger in Moosbach. Die Trauung voll­zog Herr Bezirksrabbiner Greilsheimer, die Liturgie sein Assistent, unser Kollege Alfred Kaufmann. Nach dem Hochzeitsmahl fuhren wir über Mannheim nach Hamburg. Dort hielten wir uns einige Tage auf und besuchten meine Schwester Dina Leyser sowie Ver­wandte meiner Schwester Bertha Reich, die in Kitzingen lebte.

Nach unserer Rückkehr brachte uns der Gesangverein Eubigheim ein Ständchen. Wir hatten bei Schuhmacher Beikert Wohnung genommen. Wir bedankten uns für die Aufmerksamkeit und luden alle in das „Gasthaus zum wilden Mann" ein, dort wurde noch ein wenig gefeiert. Die Zeit in Eubigheim war nun zu Ende, aber in diesen Jahren hat sich viel am politischen Himmel geändert. Das Morgenrot begann schon zu leuchten, blutrot, das die Ära einleitete, die sechs Millionen unserer Volksgenossen das Leben kosten sollte.

Auch ein anderes Morgenrot leuchtete schon, ganz schwach und zaghaft, dafür aber hoffnungsfroh. Das brachte das Licht für Erez Israel, und es wird noch den vollen Tag über Zion bringen.

Kurze Zeit nach dem Krieg wohnte bei Frau Samstag ein junger Mann mit Namen Bär. Er kam aus Bad Mergentheim, wo er der dortigen „Hachscharah" angehörte. Unter Hachscharah versteht man eine Vorbereitungsstelle für junge Juden, die nach Palästina einwandern wollten. Die etwa 20 Jungen und Mädchen dieser Hachscharah, durchweg Kinder von vornehmen Juden, arbeiteten in der Umgebung bei Bauern, um sich die nötigen Kenntnisse in der Landwirtschaft anzueignen. Nachdem sie sich diese Kenntnis erworben hatten, gingen sie wie andere junge Menschen aus deutschen Hachscharoth in das Land ihrer Sehnsucht, leisteten dort im Kreise anderer junger Menschen aus allen Ländern Pionierarbeit und gründeten jüdische Siedlungen.

Diese Jugendgruppen, die in den zwanziger Jahren in das damalige Palästina aus­wanderten, hatten das Glück, dem Grauen des Nationalsozialismus zu entgehen. Die Absicht des jungen Bär, nach Palästina auszuwandern, rief unter der jüdischen und nicht­jüdischen Bevölkerung in Eubigheim nicht geringes Erstaunen hervor. Man konnte nicht verstehen, dass man als Deutscher ein Wohlstandsleben einem Ideal opfern kann, das ein entbehrungsreiches Leben in der „Fremde" fordert. Aber jene jungen Leute ver­standen besser die Zeichen der Zeit als viele, viele Ältere ihres Stammes, denen wenige Jahre später „ihr Deutschland" und der Wohlstand nichts nützten. Aber damals hielt man es für unvorstellbar, dass in Europa für die Juden bald eine Zeit des Grauens aus­brechen würde, von dem die Ereignisse des finstersten Mittelalters bei weitem in den Schatten gestellt werden sollten.

Ich für meine Person war auf Grund meiner Erfahrungen und Begegnungen früh zum Zionisten geworden, musste mir aber mit Rücksicht auf die Einstellung meiner Behörde in Karlsruhe und meiner Umgebung Zurückhaltung auferlegen.

Ebenfalls bei Frau Samstag ließ sich damals ein Arzt nieder, ein ehemaliger Offizier aus dem Weltkrieg. Er war ledig und kam aus Norddeutschland, auch seine Eltern wohn­ten einige Zeit in Eubigheim. Sein Vater war ein pensionierter Lehrer von echt preußi­scher Gesinnung. Mit ihm zog der Wind aus einer neuen Richtung in unseren stillen Ort ein. Er gründete einen Schützenverein in Eubigheim, wie sie zu dieser Zeit überall ent­standen. In diesen Versammlungen konnte man aus Herzenslust auf die Reaktion und die Herren, die den Krieg verloren hatten, schimpfen. Das Getriebe in diesem Verein warf schon seine Schatten voraus auf das, was kommen sollte. Noch aber hegten die jüdischen Mitläufer in diesen Vereinen keinen Argwohn. Die „allerdümmsten Kälber wählten ihre Metzger selber".

Bald verschwanden die demokratischen Ideale in diesem Verein, und der große Teil der christlichen Kameraden wurde Anhänger des größten Verbrechers aller Zeiten. Die ersten Anhänger Hitlers rekrutierten sich in unserer Gegend aus dem Lager der Evangelischen, die in dem niederträchtigen Demagogen ein Gegengewicht zum gewalti­gen Rom zu finden glaubten.

Unsere Bevölkerung in Eubigheim war im- Grunde nicht antisemitisch eingestellt. Wir teilten Freud und Leid mit der christlichen Bevölkerung. Bernhard Reis, Israel Siegel und Sally Katzenstein waren Gemeinderäte, und bei einem Vereinsfest waren Martha und Florine Reich Ehrendamen. Judenhass steckte aber latent in den Köpfen vieler Bürger, denn der Untertanengeist des obrigkeitshörigen Deutschen war nicht so leicht zu erschüttern. Durch Erziehung und Vererbung schlummerte der Antisemitismus in vielen. Wir Juden bekamen das eigentlich immer wieder zu spüren. Im Heer, unter Kollegen, im Verkehr mit Beamten mussten wir immer wieder feststellen, dass wir zu oft zur Zielscheibe von plumpen und auch oft gemeinem Spott wurden. Der „Führer" brauchte nur die schlummernden Triebe zu wecken, schnell wurden sie zur lodernden Flamme.

Anfangs der zwanziger Jahre hielt der Privatdozent für Philosophie, Dr. Arnold Rüge aus Heidelberg, eine Rede in Boxberg. Das war das erstemal, dass ich in einer öffentlichen Versammlung einen ausgesprochenen Antisemiten hörte. Er war einer der ersten — nach dem Rezept Goebbels' —, der die angeblich für die deutsche Niederlage Verantwortlichen beim Namen nannte. Verrat durch das internationale Judentum hieß es, das war die Dolchstoßlegende. Kriegsgewinnler in der jüdischen Hochfinanz sind den braven und tapferen deutschen Soldaten in den Rücken gefallen und haben den bevor­stehenden deutschen Sieg auf dem Schlachtfeld zu einer Niederlage gemacht. Es waren die Schlagworte, mit denen man das Volk verhetzte. Wir waren mit einer Anzahl jüdischer Frontkämpfer anwesend, u. a. mit dem jüdischen Lehrer Dreyfuß aus Tauberbischofs­heim, und auch der evangelische Pfarrer Fehn aus Unterschüpf war dabei. In der Diskus­sion widerlegten diese die Lügen des Redners. Auch die Brüder Nathan und Sigmund Ostheimer aus Merchingen waren mit einigen handfesten Leuten zur Versammlung ge­kommen. Auf Beschwerde der Heidelberger Arbeitsgemeinschaft zur Abwehr des Anti­semitismus und des israelitischen Oberrates in Karlsruhe wurde Rüge wegen seiner anti­semitischen Pöbeleien im Juli 1920 im badischen Kultusministerium mit Zustimmung des akademischen Senats der Universität Heidelberg die Venia legend! entzogen, solches war damals noch möglich. Die Ostheimers waren übrigens bekannte und maßgebende Männer, die alleinigen Vertreter der weltbekannten Firma Knorr in Heilbronn.

Schritt für Schritt drang der braune Terror vor, und mehr und mehr rückten auch die arischen Bürger von den Juden ab, die Beziehungen zur christlichen Einwohnerschaft wurden kühler. Wir aber waren zu deutsch erzogen, um das sogleich zu bemerken, und gerieten bei solchem Erleben in Bestürzung und Bitterkeit. In meiner ersten Zeit in Eubigheim hatte ich einen Freund namens Schloer, der wurde ein Anhänger der neuen Bewegung. Ohne Schwierigkeiten tauschte er die rote Farbe gegen die braune. Als Finanz­beamter erfreute er sich besonderer Beliebtheit bei den Geschäftsleuten. Mit einem anderen Freund in Buchen machte ich dieselbe Erfahrung. Bald mussten alle die braune oder schwarze Kluft tragen, aber es gab auch Ausnahmen, Menschen mit aufrechter Ge­sinnung und festem Charakter, die den Mut aufbrachten, die Juden nicht zu beleidigen. Doch die Entwicklung war nicht aufzuhalten, die wenigen konnten die Zeit des Grauens nicht aufhalten. Erst die totale deutsche Niederlage konnte die Blutmenschen an ihrem Tun hindern, die „Endlösung", die Ermordung des gesamten Volks der Juden, durchzuführen.