Baisingen Friedhof 154.jpg (62551 Byte)  Segnende Hände der Kohanim auf einem Grabstein in Baisingen


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Beitrag von  
Lisa Groh-Trautmann:  700 Jahre jüdisches Leben in Aschaffenburg
  
Anmerkung:
Dieser Beitrag war eine Facharbeit von Lisa Groh-Trautmann, die 2008 im Leistungskurs des Karl-Theodor-von-Dalberg-Gymnasiums in Aschaffenburg zur Abiturprüfung angenommen wurde.
 
Einleitung: Das Thema habe ich für meine Facharbeit gewählt, weil mich die jüdische Kultur mit ihrer uralten Geschichte schon immer fasziniert hat. Sie hat den europäischen Kulturraum über viele Jahrhunderte entscheidend mitgeprägt. In Aschaffenburg gibt es jüdisches Leben seit 700 Jahren. Die lange jüdische Geschichte und die Entwicklung des Zusammenlebens zwischen Juden und Nicht-Juden in Aschaffenburg möchte ich vom ersten geschichtlichen Beleg über die Existenz von Juden in dieser Stadt bis zum heutigen Umgang der Aschaffenburger mit der jüdischen Vergangenheit und den Bemühungen um eine Neugründung der jüdischen Gemeinde darstellen. Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt auf der Betrachtung der Geschehnisse zur Zeit der Nationalsozialisten.
 
Die Chance mit zwei der letzten Zeitzeugen zu sprechen, die die Verbrechen der Nationalsozialisten erlebt haben, konnte ich im Rahmen meiner Facharbeit nutzen. Meine beiden Zeitzeugen, Helen Feingold in New York und Dr. Heinz Eder in München-Gauting/Obb. haben mir einen intensiven Blick auf diese Zeit ermöglicht, und ich konnte mir mit ihrer Hilfe ein viel greifbareres und unmittelbareres Bild von den Geschehnissen machen, als es durch eine reine Literaturarbeit möglich gewesen wäre. Helen Feingold wurde 1924 als Tochter des jüdischen Ehepaares Therese (Dora) und Daniel Strauss in Würzburg geboren. 1939 zog die Familie nach Aschaffenburg. Von hier aus emigrierte sie 1941 in die USA. Dr. Heinz Eder wurde 1918 in Aschaffenburg geboren und lebte dort bis 1936. Seine Mutter Frieda war Jüdin, sein Vater Josef nicht. Unter den Nationalsozialisten wurde Herr Dr. Eder deshalb als "jüdischer Mischling 1. Grades" bezeichnet. Die Mütter meiner Zeitzeugen stammen beide aus der Familie Solinger, der 1933 mit 47 Mitgliedern größten jüdischen Familie Aschaffenburgs. 
 
Die jüdische Gemeinde von ihrer Entstehung bis zum Beginn der Aufklärung Die ersten gesicherten Belege für eine jüdische Gemeinde in Aschaffenburg stammen aus den Jahren 1267/68. Im Totenbuch des Stifts St. Peter und Alexander wird eine jüdische Synagoge oder Schule erwähnt. Andere Quellen, die jedoch bis heute nicht ausreichend belegt sind, deuten daraufhin, dass es schon früher Juden in Aschaffenburg gegeben hat (Körner 1984, S. 3). Weitere Hinweise auf die Aschaffenburger Juden finden sich in Berichten über Judenverfolgungen in den Jahren 1336 und 1348/49 (Spies a.a.O., Bd. 7, S. 166). Im Gegensatz zu anderen Städten wurde zu dieser Zeit jedoch kein Ghetto in Aschaffenburg errichtet. 
 
Über die Größe der jüdischen Gemeinde im Spätmittelalter ist nur wenig bekannt, es ist aber belegt, dass die Gemeinde vor 1459 ihre Synagoge aufgegeben hatte, also um die Mitte des 15. Jahrhunderts sehr klein gewesen sein muss. Aus dieser und der Folgezeit sind viele Schutzbriefe erhalten, in denen der Landesherr den Juden gegen Zahlung von hohen Geldbeträgen sowohl Schutz als auch Zoll- oder Steuerfreiheit zusichert. Um 1700 wohnten 94 Juden in Aschaffenburg, die fast ausschließlich vom Handel mit Vieh, besonders Pferden, und Textilien lebten (vgl. ebd. S. 185). 
 
Veränderungen zur Zeit der Aufklärung Erst die Zeit der Aufklärung brachte die jüdischen Aschaffenburger, wie alle Juden im deutschsprachigen Raum, auf den Weg in die Gleichberechtigung. Erste Ansätze hierzu kamen von Kurfürst Friedrich Carl von Erthal. Dieser schrieb 1784 eine weit reichende Verordnung zu Wirtschaftsleben, Rechtswesen und Schulbildung. Aus einer Verordnung für die Aschaffenburger Judenschaft von 1809 geht hervor, dass die Fürsten nun Toleranz gegenüber den Juden förderten, aber auch Rücksichtnahme auf die den Religionsgesetzen übergeordnete, allgemeine staatliche Vernunft verlangten. 
 
1809 folgte ein weiterer Schritt in Richtung Gleichberechtigung, als Kurfürst Carl Theodor von Dalberg den Code Civil als Gesetzbuch einführte. Anders als in Frankreich brachte das den Juden jedoch immer noch nicht das volle Bürgerrecht. Sie waren jetzt verpflichtet, einen festen Familiennamen zu führen und sich ins Zivilregister eintragen zu lassen. Ab 1811 galt für ihre Kinder die allgemeine Schulpflicht. Durch diese Veränderungen wurden sie stärker in die Gemeinschaft integriert. Um ihre Sondersteuern abzulösen sollten die Juden aber das Zwanzigfache der Jahressteuer in Raten an den Kurfürsten zahlen. Die Verhandlungen darüber scheiterten jedoch 1813, und den Juden blieben die vollen Bürgerrechte weiterhin verwehrt. 
 
Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekamen sie die wirtschaftliche und auch bürgerliche Gleichberechtigung. Sowohl Regierung als auch Stadtverwaltung setzten dies durch. Allerdings hatten die jüdischen Bürger stets mit Widerstand von Seiten der Interessenvertretung des örtlichen Handwerks und Handels zu kämpfen. So wurde zum Beispiel mehrfach versucht, jüdischen Handwerkern die Meisterzulassung zu verweigern (vgl. hier und im Folgenden Körner 1984, S. 5 ff.). Dennoch gelang vielen Aschaffenburger Juden die erfolgreiche gesellschaftliche Eingliederung, begünstigt auch dadurch, dass viele von ihnen im 19. Jahrhundert ihre Religion liberal ausübten. Eher kam es immer wieder zu Konflikten zwischen den liberalen städtischen Juden und ihren orthodoxen Rabbinern, denn die Rabbiner wurden von allen Mitgliedern des Rabbinatsdistrikts gewählt, der damals etwa 25 Orte mit mehrheitlich konservativen Gemeinden umfasste. Jüdische Männer kamen ihrer Bürgerpflicht nach, indem sie beim Militär und beim Aschaffenburger Landwehrbataillon dienten. 
 
Weitere Beweise für eine gute Integration lassen sich im Bildungswesen finden. Ab 1811 besuchten jüdische Kinder und Jugendliche die allgemeinen Schulen in Aschaffenburg. Besonders in der Aschaffenburger Realschule (von 1923 bis 1939 und 1946 bis 1964 Oberrealschule, seit 1965 Friedrich-Dessauer-Gymnasium) waren jüdische Schüler stark vertreten. Von Seiten der Behörden wurde streng darauf geachtet, dass die jüdischen Kinder ihrer Schulpflicht nachkamen und in das Bildungswesen eingegliedert wurden. Aus Rücksichtnahme auf deren Religion gab es allerdings einige Sonderregeln. So mussten Kinder orthodoxer Eltern am Sabbat an anstrengenden Tätigkeiten, wie zum Beispiel dem Turnen, nicht teilnehmen. An Feiertagen wurden sie sogar vom Schreiben befreit. Dies zeigt, wie gut der Anschluss der Juden an die nicht-jüdische Gesellschaft funktionierte, ohne dass sie ihre kulturelle und religiöse Identität aufgeben mussten. 
 
Viele Aschaffenburger Juden waren national eingestellt, haben sich als Deutsche gefühlt und Deutschland als ihr Vaterland angesehen. Die Abgrenzung zu den Juden aus Osteuropa verdeutlicht die Stellungnahme der Gemeinde in Bezug auf einen vom Rabbi vorgeschlagenen Schächter: Derselbe ist ein Pole oder ein Russe und mit solchen Leuten kommen wir nicht aus. Im Ersten Weltkrieg kämpften viele Aschaffenburger Juden für Deutschland. Drei Mitglieder der Familie Solinger sind diesem Krieg zum Opfer gefallen oder wurden danach vermisst: Felix Solinger, starb am 12. April 1915 im Lazarett, Richard Solinger, vermisst seit 1915, und Simon Solinger, erlag am 13. Dezember 1918 seinen Verletzungen. Jüdische Frauen, wie beispielsweise Frieda Eder, geb. Solinger, zeigten ihren Patriotismus durch Rot-Kreuz-Tätigkeit in Lazaretten (Korrespondenz Eder vom 27. 7. 2007). Dennoch gab es auch zu dieser Zeit einen gewissen Antisemitismus. Ein Beispiel hierfür ist das Pamphlet "Deutscher Reichs-Speiteufel", das in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erschien und unter anderem ein Hetzgedicht über Juden im Schöntal veröffentlichte (siehe Kasten auf Seite 7). 
 
Die jüdische Gemeinde während der Weimarer Republik Zur Zeit der Weimarer Republik waren die jüdischen Aschaffenburger voll in die Gesellschaft integriert und prägten zu einem nicht unerheblichen Teil auch das Wirtschaftsleben. 1933 lebten 707 Juden in der Stadt - dies entsprach zwei Prozent der Bevölkerung. Aschaffenburg war Sitz der siebtgrößten jüdischen Gemeinde Bayerns. Es gab hier mehr als 100 jüdische Geschäfts- und Gewerbebetriebe vor allem in der Herstallstraße. Allein die aus Goldbach stammende Familie Solinger besaß zahlreiche Betriebe, darunter die Herrenkleiderfabrik Solinger & Sichel (Frohsinnstraße 12, 26 und Elisenstraße 25), die Hosen- und Herrenkleiderfabrik Gebr. Solinger (Herstallstraße 30) und Kurzwaren en gros (Treibgasse 1), die Herrenkleiderfabrik W. Solinger & Cie. (Frohsinnstraße 10), das Kaufhaus Solinger (Herstallstraße 8) und Kurzwaren en gros Siegfried Solinger (Herstallstraße 20), die Herrenkleiderfabrik Solinger & Cie. (Frohsinnstraße 24). Salomon Solinger war Metzger in der Fabrikstraße 16 (Angaben von Peter Körner). Daneben engagierten sich viele Juden in Aschaffenburger Vereinen womit sie zeigten, dass sie ein ganz normaler Teil des Aschaffenburger Gesellschaftslebens waren. 
 
Viele Jüdinnen in der Aschaffenburger Frauenbewegung 1903 bis 1933 Hervorzuheben ist besonders das Engagement jüdischer Frauen im städtischen Vereinsleben. Karitativ interessierte Jüdinnen betätigten sich im 1854 gegründeten "Israelitischen Frauenverein" und/oder in den zahlreichen anderen Wohltätigkeitsvereinen Aschaffenburgs. Die emanzipierteren Jüdinnen unterstützten die modernen Bestrebungen im bürgerlich-liberalen, interkonfessionellen "Verein für Fraueninteressen", in dem sie seit seiner Gründung 1903 auch in Vorstandsaufgaben eingebunden waren. Ein Briefwechsel legt das unterschiedslose, überaus freundschaftliche Verhältnis in diesem Frauenverein offen: Wir haben sehr viele Jüdinnen, die sich verdient gemacht haben; auch bei der Gründung waren sie in hervorragendem Maße beteiligt und sie hatten allezeit eine offene Hand (zit. nach Schmittner 1995, S. 123 f.). 
 
Auch der renommierte "Verein der Spessartfreunde Aschaffenburg", eine Ortsgruppe des Spessartbundes, hatte viele jüdische Mitglieder, wie zum Beispiel Gutta Rothschild, die 1912 als erste Frau in den Vorstand gewählt worden war und 1930 zum 50-jährigen Jubiläum der "Spessartfreunde" die Tischstandarte gestickt hatte (Schmittner in Spessart" Heft 4/2006, S. 13). 
 
In dieser Zeit gingen jüdische und nicht-jüdische Kinder gemeinsam in die Schule. Erst 1934 wurde eine jüdische Schule in Aschaffenburg eröffnet. Dr. Heinz Eder schreibt über diese Zeit: Ich hatte eine unbeschwerte, glückliche Jugend. Einige Male wurde ich in der Schule gehänselt, weil ich eine jüdische Mutter hatte: "Deine Mutter is en Judd". Ich fühlte mich voll integriert, das Gefühl, ein Halbjude zu sein, war mir fremd. (Korrespondenz Eder v. 2 7. 7. 2007). Auch Helen Feingold gefiel es in Aschaffenburg, wo sie oft ihre Schulferien verbrachte, offensichtlich sehr gut: Jedes Mal, wenn ich nach Würzburg zurückkam und in der Schule etwas sagen musste, habe ich "aschebergerisch" gesprochen und die Klasse lachte mich aus (zit. nach Schmittner in "Spessart" Heft 11/2001). 

Obwohl das Zusammenleben von Juden und Nicht-Juden relativ gut funktionierte und der Aufstieg der Nationalsozialisten in Aschaffenburg eher langsam verlief, gründete sich schon 1919 der "Verein zur Wahrung deutsch-völkischer Interessen für Aschaffenburg und Umgebung". Eine seiner Forderungen war: Neben der Pflege von Heimat und Volkstum soll in erster Linie den Übergriffen des Judentums und dem schändlichen Treiben der judenhörigen Marxistengesellschaft durch Aufklärung entgegengewirkt werden (zit. nach Pollnick 1984, S. 43). Am 5. Januar 1919 fand unter dem Titel "Deutschtum und Judentum" die erste große Veranstaltung des Aschaffenburger "Deutsch-Völkischen Bundes" statt. Besonders die historisch unhaltbare Aussage, auf jeden gefallenen Juden im Ersten Weltkrieg kämen 300 deutsche Soldaten, erhielt stürmischen Beifall. Als 1919 erste Flugblätter auftauchten mit dem Ziel, die Bevölkerung gegen ihre jüdischen Mitbürger aufzuhetzen, nahm die "Aschaffenburger Zeitung" die Juden in Schutz. Weitere Vorboten des jetzt aufsteigenden Nationalsozialismus waren eine 1920 erschienene Faschingszeitung mit antisemitischen Parolen, das 1921 erstmals in einer Aschaffenburger Zeitung abgedruckte Hakenkreuz und eine mit deutsch-völkischer Literatur dekorierte Buchhandlung (ebd. S. 47 ff.). Am 10. Mai 1923 kam es im Anschluss an eine gemeinsame Demonstration von Mitgliedern der NSDAP, Angehörigen der Organisationen "Bayern und Reich", "Reichsflagge" und "Bund Oberland" zu Ausschreitungen, bei denen der Kleiderfabrikant Max Solinger schwer verletzt wurde, ohne dass die Ordnungsbehörden eingriffen (ebd. S. 59). 
 
Ab 1927 stieg die Zahl der Mitglieder der NSDAP-Ortsgruppe in Aschaffenburg kontinuierlich an. Zwar erlitt sie bei den Reichs- und Landtagswahlen 1928 noch eine große Niederlage, doch ab 1930 wurde die Partei immer stärker. 
 
Die Lebensumstände der jüdischen Bürger von 1933 bis 1938 Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 blieb auch in Aschaffenburg nicht ohne Folgen. Schon im Januar begann der Boykott jüdischer Warenhäuser sowie eine verstärkte Hetze gegen einzelne jüdische Personen. Besonders der Chefredakteur der Aschaffenburger "Volkszeitung" (Presseorgan der SPD), Georg Dewald, dessen Vater ein Jude sein sollte, musste nun als Prügelknabe der NSDAP herhalten. Gegen ihn wurden in dem von Franz Lieb herausgegebenen NS-Blatt "Aschaffenburger Nachrichten" rassistische Hetzzeilen veröffentlicht, in denen es unter anderem hieß: Klar gezeichnet steht das Bild des Georg Dewald vor uns. Es sind seine jüdischen Instinkte, die ihn dazu treiben, den Sozialismus zu verfälschen und umzuformen, es ist die jüdische Tücke, die den Klassenkampf heraufbeschwor, es ist der jüdische Geist, der ihn zwang, die Zersetzungschancen und die schwachen Momente des deutschen Wirtsvolks auszunützen und die Autorität des christlichen Staates zu untergraben. (zit. nach Pollnick 1984, S. 140). 
 
Bald nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 verstärkte sich der Druck auf die jüdische Bevölkerung weiter. Am 9. März 1933 fand eine "Protestveranstaltung" des Aschaffenburger Einzelhandels statt, mit der Forderung, dass ("arische") Deutsche in ("arischen") deutschen Geschäften einkaufen sollten. Auch die Aschaffenburger "Volkszeitung" wurde erneut attackiert. Mitglieder der SA durchwühlten die Redaktionsräume und nahmen mehrere Personen, darunter auch Georg Dewald, vorübergehend fest. Mit der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes am 23. März 1933 spitzte sich die Lage der Juden noch mehr zu. Am 31. März 1933 führte die Ortsgruppe der NSDAP eine Großdemonstration gegen die "jüdische Greuelpropaganda" auf dem Freihofsplatz und in den umliegenden Straßen durch. Der reichsweit organisierte Boykott jüdischer Geschäfte vom 1. bis zum 4. April 1933 fand auch in Aschaffenburg statt. SA und SS hinderten nicht-jüdische Bürger daran, jüdische Geschäfte zu betreten. Die Aschaffenburger NS-Presse beschrieb diese Aktion folgendermaßen: Transparente durchzogen die ganze Stadt, überall den Willen des Volks verkündend. SA- und SS-Posten warnten vor den jüdischen Betrieben, schwarze Plakate mit gelbem Punkt kennzeichneten die jüdischen Pesthäuser. Bebend, mit vor Angst verzerrten Gesichtern, standen die Juden in ihren Läden, der Schrecken packte sie [?], und vielleicht kam ihnen zum ersten Mal das Wissen von unserem unerbittlichen Willen, brutal durchzugreifen und unsere Forderungen rücksichtslos durchzuführen. Die Geschwister Meyer erkannten sofort die Aussichtslosigkeit eines Widerstandes und schlossen von Beginn des Boykotts ihre Pforten, die übrigen Juden versuchten in ihrem sich selbst vorgetäuschten Heroismus unter Aufbringung ihres Kraft-Restbestandes den Verkauf aufrecht zu erhalten. An den Posten wagten sich aber nur wenige vorbeizuschleichen, es waren ausnahmslos jene marxistischen Kreaturen, die auf diesem Umweg ihre politische Meinung und ihren Hass gegen die Regierung zum Ausdruck bringen wollten. (zit. nach Pollnick 1984, S. 152). Der Boykott war laut Polizeiakten nicht so effektiv, wie die Propaganda behauptete. 

Am 8. April 1933 ließ der Kreisleiter der NSDAP, Wilhelm Wohlgemuth, als kommissarischer Erster Bürgermeister die Waffenscheine aller Juden und Sozialdemokraten einziehen. Die nächsten Opfer der Nationalsozialisten waren dann drei Mitglieder der Bayerischen Volkspartei, die als Vertreter des Aschaffenburger Einzelhandelsverbandes versuchten, ihre jüdischen Mitglieder zu schützen. Die Bemühungen waren jedoch vergeblich, Josef Solinger und Georg Abraham Goldschmidt mussten ihre Führungspositionen im Einzelhandelsverband aufgeben. 
 
Trotz all dieser Aktionen der NSDAP gab es immer noch nicht-jüdische Aschaffenburger, die in jüdischen Geschäften einkauften (oder, was häufig geschah, ihre Kinder zum Einkaufen schickten) und mit Juden sprachen. Trugen sie bei ihren Einkäufen das Hakenkreuzzeichen, bezeichneten die Nationalsozialisten dies als "Verächtlichmachung des Parteiabzeichens". Die "Schuldigen" mussten mit Rügen und später mit drastischen Bestrafungen rechnen. Am 13. September 1933 veranstaltete die NSDAP eine weitere Massenkundgebung. Der Gastredner dieser Veranstaltung zitierte - in völlig falschem Zusammenhang - Goethe und behauptete, auch er habe schon die Verderblichkeit einer Mischung jüdischen Blutes mit deutschem vorausgesehen (zit. nach Pollnick 1984, S. 203). Ende 1933 / Anfang 1934 kursierte in Aschaffenburg ein Flugblatt mit einem Hetzgedicht, in dem sogar jüdische Bürger namentlich erwähnt und auf niederträchtigste Weise beleidigt wurden. Auch 1934 wurden die Anfeindungen gegenüber Juden und der Boykott ihrer Geschäfte fortgesetzt. 
 
Dennoch gab es bei den Aschaffenburger Juden in den Jahren 1934 bis 1937 noch einmal einen konjunkturellen Aufschwung. Dies könnte unter anderem ein Grund dafür gewesen sein, dass sich so viele erst sehr spät und leider oft zu spät für eine Auswanderung entschieden. Von 1933 bis 1935 wanderten nur 62 Aschaffenburger Juden aus. In dieser Zeitspanne verließ auch kein Mitglied der Familie Solinger Deutschland. 
 
Im Leben der jüdischen Gemeinde änderte sich jetzt natürlich einiges. Die früher nicht sehr religiösen Aschaffenburger Juden wurden aus dem gesellschaftlichen Leben der Stadt ausgeschlossen und konnten nur noch untereinander Kontakte pflegen. Religion und Zionismus begannen so, wichtige Themen für sie zu werden. 1934 wurde die jüdische Schule in Aschaffenburg gegründet, um jüdische Kinder vor den immer größer werdenden Demütigungen zu schützen, denen sie in den allgemeinen Schulen ausgesetzt waren. Für Familie Eder brachte diese Zeit ebenfalls weit reichende Veränderungen. Josef Eder, der Vater von Dr. Heinz Eder, musste seine Stellung als Amtsrichter in Aschaffenburg aufgeben. Grund dafür war ein Urteil zugunsten eines katholischen Priesters und die daraufhin folgende öffentliche Aussage eines Aschaffenburger Staatsanwalts, dass von einem jüdisch versippten Beamten kein anderes Urteil (zu erwarten gewesen sei). Außerdem wurde den Eltern von Dr. Heinz Eder der Ausschluss aus gesellschaftlichen Vereinigungen, zum Beispiel Kegelclub Casino und Corps franconia zugemutet. Gute Freunde wechselten die Straßenseite und grüßten nicht mehr. (Korrespondenz Eder vom 27. 7. 2007). 

Gleichschaltung des Spessartbundes und Ende des Vereins für Fraueninteressen Der Spessartbund war 1933 dem NS-"Reichsbund für Leibesübungen" eingegliedert worden. Der damalige Vorsitzende Sanitätsrat Dr. Hans Hönlein wies sämtliche Ortsgruppen an, schriftlich zu garantieren, dass jeder nichtarische Einfluss in unseren Vereinen auszuschalten ist. Viele jüdische Mitglieder wurden daraufhin ausgeschlossen (Schmittner in "Spessart" Heft 4/2006, S. 13). 
 
Unter dem Druck der Verhältnisse verließen auch zahlreiche Jüdinnen den "Verein für Fraueninteressen", um dessen "arischen" Fortbestand nicht zu gefährden. Vor die Alternative gestellt, sich der nationalsozialistischen "Deutschen Frauenfront" anzuschließen oder sich aufzulösen, beschloss der Frauenverein 1934 die "freiwillige" Selbstauflösung als den besten und ehrenvollsten Weg unseren jüdischen Mitgliedern gegenüber (zit. nach Schmittner 1995, S. 124). 
 
Im Jahr 1935, dem Jahr der "Nürnberger Gesetze" und des Reichsparteitags, verschlimmerte sich die Situation der Aschaffenburger Juden erneut. Ein Beispiel für die fortschreitende Ausgrenzung der Juden aus dem öffentlichen Leben ist die im Juli 1935 vom damaligen Oberbürgermeister Wilhelm Wohlgemuth ausgesprochene Bekanntmachung, dass allen Juden das Betreten der städtischen Bäder verboten sei (Körner 1984, S. 10). Im August 1935 kam es zu einer weiteren Hetzkampagne gegen Juden. In einem Referat in der Schweinheimer Turnhalle wurde allen Nationalsozialisten geraten, den Gegnern der NS-Bewegung, die sich zu einem jüdisch-kommunistisch-konfessionellen Geheimbund zusammengeschlossen hätten, die harte Faust unseres nationalsozialistischen Willens entgegenzusetzen (zit. nach Pollnick 1988, S. 103). 
 
Vom 10. bis 16. September 1935 fand der 7. Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg auch mit Aschaffenburger Beteiligung statt. Auf diesem "Reichsparteitag der Freiheit" wurden die "Nürnberger Gesetze" verabschiedet. Die Gesetze beinhalteten das "Reichsbürgergesetz" und das "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre". Durch das "Reichsbürgergesetz" wurden den Juden alle politischen Rechte aberkannt. Das zweite, auch "Blutschutzgesetz" genannte Gesetz verbot die Eheschließung zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes. Außerdem durften Juden nun keine weiblichen Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren mehr in ihren Haushalten beschäftigen. Besonders das "Blutschutzgesetz" besorgte die Aschaffenburger Juden. Es trafen mehrere Gesuche beim Stadtrat ein, mit denen die von diesem Gesetz betroffenen Juden die Rechtmäßigkeit der Beschäftigung ihrer nicht-jüdischen Angestellten darlegen wollten. In seinem Antwortschreiben verwies der Stadtrat darauf, dass nur der Führer und Reichskanzler Befreiung von den Vorschriften dieses Gesetzes und der Ausführungsverordnung erteilen könne. Nur einer der Antragsteller bekam eine vorläufig positive Antwort (ebd. S. 111). 
 
1936 wanderten 36 Aschaffenburger Juden aus, um der anhaltenden Diskriminierung und Hetze zu entgehen (vgl. Welsch a.a.O, Bd. 1, S. 77). Auch Manfred und Johanna Solinger verließen in diesem Jahr Deutschland und zogen nach Palästina. Manfred Solinger, Mitinhaber der Kleiderfabrik W. Solinger & Cie., musste sowohl seine Villa am Ziegelberg, als auch seinen Geschäftsanteil unter ungünstigsten Bedingungen verkaufen. Außerdem musste er 25 Prozent seines Vermögens als "Reichsflucht-Steuer" abgeben. Dieses Beispiel erklärt vielleicht, warum trotz der schrecklichen Zustände viele Juden in Deutschland geblieben sind. Die Nazis entrissen den Auswanderern einen Großteil ihres Vermögens. Für Finanzschwächere war so eine neue Existenzgründung unmöglich. Auch Familie Eder verließ in diesem Jahr Aschaffenburg. Sie blieben allerdings in Deutschland (in Gräfelfing bei München), da wegen der bevorstehenden Studien der beiden Söhne das nötige Geld fehlte, um auszuwandern. "Halbjuden" wurden noch bis 1938 zum Studium zugelassen. 
 
"Einfach hingenommen ?" Das Verhalten der Aschaffenburger Bürger in dieser Zeit beschreibt Dr. Heinz Eder folgendermaßen: Die Aschaffenburger Bevölkerung hat die Judenverfolgung einfach hingenommen. Viele hatten ja Nutzen davon ("Arisierung") oder versprachen sich als Beamte oder Angestellte bessere Aufstiegsmöglichkeiten. Man muss allerdings auch erwähnen, dass offen zum Ausdruck gebrachte Gegnerschaft zum Nationalsozialismus schwere Strafen zur Folge hatte und die Bevölkerung mit Hilfe der NS-Hauswarte ständiger Kontrolle unterworfen war (Korrespondenz Eder vom 27. 7. 2007). 
 
Einige Aschaffenburger setzten sich trotz der großen Bedrohung für ihre jüdischen Mitbürger ein. Ein Beispiel hierfür ist Kaplan Paul Steinert in Damm (von 1936 bis 1938). Im November 1937 kritisierte er einen von der NS-Ideologie geprägten Lehrer (Willy Weber, Lehrer in Damm seit 1937). Dieser versuchte nämlich, die nationalsozialistischen Erziehungsprinzipien anzuwenden und den "Judenbegriff" zu erklären. Seinen Schülern gegenüber vertrat er folgende These: Wer bei einem Juden einkauft, schadet den deutschen Menschen und dem Vaterland. Kaplan Steinert sah das jedoch ganz anders: Die Juden sind genauso Menschen wie wir. Bei Juden darf man auch kaufen, die bezahlen genauso ihre Steuern wie wir? In der offiziellen Rüge hieß es, dass der Allmächtige einen Rassenunterschied unter seinen Geschöpfen gemacht hat , was ein Kaplan eigentlich wissen müsste. Da Steinert diese Erklärung ablehnte, wurde der Bezirksoberlehrer (Karl Link - Auskunft Dipl.-Kfm. Martin Kempf ) als Schlichter eingesetzt. Entgegen der Erwartungen trat er allerdings für Steinert ein und unterstützte nicht die Sichtweise der Nazis. Diese konnten nun nichts weiter ausrichten, außer ihren ideologietreuen Lehrer zu ermutigen, weiterhin im Geiste der Bewegung zu unterrichten (vgl. Pollnick 1988, S. 168). Dieses Beispiel zeigt, dass es zumindest bis zu diesem Zeitpunkt noch die Möglichkeit zum Widerstand gegeben hat. 
 
Weitere 44 Mitglieder der Aschaffenburger jüdischen Gemeinde verließen 1937 Deutschland. Unter ihnen auch Erna Solinger, die in die USA auswanderte. Alles in allem hatten bis 1937 schon 142 der 707 jüdischen Bürger Aschaffenburg verlassen und waren ins Exil gegangen (vgl. Welsch a.a.O, Bd. 1, S. 77). 
 
Im Mai 1938 wurde im Auftrag des Justizministeriums ein Edikt erarbeitet, das die Hausgemeinschaft mit Juden regeln sollte. Vor dem Abschluss eines Mietvertrags sollte man sich erkundigen, ob der Hauseigentümer "deutschen oder artverwandten Blutes" ist und dahin zu wirken, dass schon bestehende Mietverhältnisse mit Juden allmählich verschwinden. Außerdem musste nun jeder Vermieter jeden Mieter auf im Haus wohnende Juden hinweisen, denn die nicht-jüdischen Mieter sollten sich darauf verlassen können, dass der Hauseigentümer seine völkische Pflicht erfüllt und nicht an Juden vermietet. Ferner sollten freie Wohnungen nicht an Juden vermietet und es sollte außerdem versucht werden, alle im Haus wohnenden Juden durch "arische" Bürger zu ersetzen. Einige Aschaffenburger Hausbesitzer erfüllten die Verordnungen sofort, andere verweigerten sich dieser weiteren Diskriminierung vorerst noch (vgl. Pollnick 1988, S. 187). 

Eine andere Schikane, der die Juden nun ausgesetzt wurden, war die am 14. Juni 1938 vom Reichswirtschaftsministerium erlassene Weisung, jüdischen Privatpersonen und Firmen keine Kredite mehr zu gewähren. Es war allerdings erlaubt, Geld, das Juden einzahlten wollten, anzunehmen. Außerdem trat zu diesem Zeitpunkt auch die "Dritte Verordnung zum Reichsbürgergesetz" in Kraft. Jüdische Betriebe mussten sich nun in die Gewerbekarteien eintragen lassen und wurden gekennzeichnet. 
 
Rund vier Wochen vor der "Reichskristallnacht" kam es in Aschaffenburg erneut zu antisemitischen Hetzen. Diese Hetztiraden können als "Einstimmung" auf das längst geplante Pogrom gesehen werden. Die Aschaffenburger Presse diskriminierte jüdische Geschäftsinhaber und deren Arbeit, obwohl ihre Betriebe schon seit Jahrzehnten Teil des Stadtbildes waren: Als vor einiger Zeit die Lebensmittelabteilung eines damals noch in jüdischen Händen befindlichen Aschaffenburger Kaufhauses geschlossen werden musste, weil sie verdorbene Waren führte, da fühlte man sich lebhaft an den Satz "außen hui - innen pfui" erinnert. Und als vor einiger Zeit mehrere jüdische Geschäfte in unserer Stadt ihre Besitzer wechselten und in arische Hände übergingen, da konnte man erneut feststellen, dass sich hinter der glänzendsten Fassade gar oft der größte Dreck verbirgt. Was in diesem Fall ganz wörtlich zu verstehen ist ? Sie waren nämlich derart versaut, dass es zunächst zu schaffen gab, um wenigstens einmal den größten Schmutz zu beseitigen ... (hier und im Folgenden zit. nach Pollnick 1988, S. 203 f.). 
 
Um die wenigen verbliebenen nicht-jüdischen Kunden jüdischer Geschäfte zum Einkauf in "arischen" Geschäften zu bewegen, schlug der Autor dieses Artikels vor: Man sollte eigentlich einige dieser Räume in ihrem Urzustand belassen und ihren Besuch jenen Volksgenossinnen und Volksgenossen anraten, die immer noch mit Vorliebe dort einkaufen, wo sie "koschere" Waren bekommen. Vermutlich würden sie angesichts des Schmutzes voll und ganz bekehrt werden und verstehen lernen, was das Schild "Deutsches Geschäft" eigentlich besagt: dass es nämlich ein Geschäft kennzeichnet, in dem man gut, preiswert und auch - sauber einkauft. Zu dieser Zeit war, wie der Autor erfreut feststellte, die Zahl der Läden mit der Aufschrift "Deutsches Geschäft" schon merklich gestiegen und der "jüdische Ungeist" verdrängt worden. Das heißt nichts anderes, als dass viele Geschäfte ihren jüdischen Besitzern im Zuge der "Arisierung" für meist lächerlich geringe Summen abgenommen worden waren. 
 
Ein weiterer Artikel in ähnlich herabwürdigendem und beleidigendem Stil widmete sich der Benutzung der Parkbänke durch jüdische Bürger. Darin heißt es, dass Deutsche, die sich entspannen oder während ihrer Spaziergänge ausruhen möchten, oft die Feststellung machen, dass die Bänke?von Angehörigen der "auserwählten Rasse" belegt sind, und weiter: Diese Wahrnehmung konnten wir aber nicht nur einmal, sondern schon seit langem wiederholt machen. Es gehört eine große Portion Frechheit und Unverschämtheit dazu, wenn diese Juden heute noch wagen, deutsche Volksgenossen in ihren Erholungsstunden zu stören und ihnen die schönsten Plätze in unseren Anlagen wegzunehmen. Bei einem Spaziergang kann man die jüdische Rasse mit ihren sonderlichen Nasen sehen, die frech und herausfordernd ihre hässlichen und abstoßenden Gesichter zur Schau stellt ? Solche oder so ähnliche Hetzartikel erschienen in der folgenden Zeit regelmäßig in Aschaffenburger Zeitungen. 
 
Ein weiteres, ebenfalls noch vor der Reichspogromnacht stattfindendes Ereignis war die Ausweisung von 1700 Juden polnischer Staatsangehörigkeit aus dem Deutschen Reich. Auch zehn Aschaffenburger Juden waren davon betroffen. Sie wurden am 28. Oktober festgenommen und anschließend in Richtung Polen abtransportiert (vgl. Körner a.a.O., Bd. 2, S. 173). 
 
Das Novemberpogrom 1938 in Aschaffenburg Mit dem am 8. November 1938 in der Aschaffenburger Zeitung erschienenen Kommentar "Wir fordern Sühne" zu den Schüssen des Juden Grynszpan auf den deutschen Diplomaten vom Rath in Paris hieß es unter anderem, dass man es niemand verdenken könne, wenn wir in Deutschland keine Veranlassung mehr sehen, dem jüdischen Geschmeiß noch weiteren gesetzlichen Schutz in unserem sonst so großzügigen Gastland zu gewähren. Damit wurde in aller Deutlichkeit signalisiert, dass man keine Folgen bei Straftaten gegen Juden zu erwarten hätte. 

Folgende Passage könnte dazu gedient haben, die Schuld für das am nächsten Tag stattfindende Pogrom von vornherein den Juden zuzuschreiben und damit alle potenziellen Täter anzustacheln und zu ermutigen: ?Die Geduld des deutschen Volkes und seiner Führung hat ihre Grenzen. Wird der Bogen dieser Geduld überspannt, so darf sich niemand wundern, wenn der Pfeil einmal losschnellt. Wen er trifft, der hat es sich selbst zuzuschreiben. [?] Dann braucht sich aber kein Mensch zu wundern, wenn Deutschland den Juden in Deutschland dieselbe "Gerechtigkeit" widerfahren lässt, die man von jüdischer Seite überall den Deutschen erweist. 
 
Weitere Teile des Textes, wie zum Beispiel der Hinweis auf die noch immer unversehrten Synagogen, oder der Satz, dass Teile des "Weltjudentums" noch immer in Deutschland säßen und man nur zuzugreifen brauche, sind sehr konkrete Hinweise darauf, dass die Geschehnisse am 9. November schon länger geplant waren (vgl. Spies a.a.O. Bd. 2, S. 173). 
 
Der Beginn der Reichspogromnacht war eine geheime Anweisung, die alle Polizeiämter - natürlich auch das Aschaffenburger - erhielten. In ihr wurde befohlen, die Aktionen, die gegen Juden in ganz Deutschland stattfinden werden, nicht zu behindern. Wichtiges Archivmaterial in Synagogen sei sofort sicherzustellen. Die Festnahme von 20 000 bis 30 000 Juden im Reich sei vorzubereiten; vor allem reiche Juden seien auszuwählen. Außerdem wurde angeordnet, dass alle SA-Führer jüdische Geschäfte und Synagogen von ihren Männern zerstören lassen sollten. An den verwüsteten Geschäften sollten Plakate mit der Aufschrift Rache für Mord an vom Rath aufgehängt werden. Der Polizei wurde jegliches Eingreifen verboten und die Feuerwehr durfte nur dann tätig werden, wenn Wohnhäuser bedroht waren (Pollnick 1988, S. 208). 
 
Diese Anweisungen wurden in Aschaffenburg von verschiedenen Gruppen ausgeführt. Der Spielmannszug der Aschaffenburger SA warf bei einigen jüdischen Geschäften Scheiben ein. Die Aufforderung hierzu bekam deren Führer am Abend des 9. November, während er mit seinen Untergebenen feierte. Er schickte daraufhin seine Männer nach Hause und befahl ihnen, Zivilkleidung anzulegen und sich dann im Standartenlokal der SA (Kaiser-Wilhelm-Straße 9, heute Deschstraße, Auskunft Dipl.-Kfm. Martin Kempf) einzufinden. Dort wurden sie in kleinere Trupps unterteilt und dann von SA-Standartenführer Schwind zu verschiedenen Orten in die Stadt geschickt, um dort jüdische Geschäfte zu zerstören. Neben vielen weiteren Läden wurden auch einige Geschäfte der Familie Solinger zerstört: das Herrenbekleidungsgeschäft "Isola" (Inhaber: Josef Solinger) in der heutigen Frohsinnstraße, die Herrenkleiderfabrik Solinger & Sichel in der Elisenstraße und die Metzgerei Solinger in der Fabrikstraße (Körner a.a.O., Bd. 2, S. 177). 
 
Für die Zerstörung der Synagoge war der Pionierzug der SA verantwortlich. Der Zugführer wurde zu Hause benachrichtigt und erhielt von Schwind den Befehl, die Synagoge in der Entengasse zu zerstören. Ein Trupp von ungefähr sechs SA-Männern in Zivilkleidung zog zur Synagoge, brach in sie ein, trug brennbares Material hinein und zündete es an. Dies zog viele schaulustige Aschaffenburger an. Als schließlich auch die Feuerwehr eintraf, war kein Wasser vorhanden. Bis heute ist nicht bekannt, wer die Arbeit der Feuerwehr sabotierte. Allerdings sagten auch mehrere Feuerwehrleute nach Kriegsende aus, sie hätten sich von der vor der Synagoge stehenden Menschenmenge bedroht gefühlt. Ein Feuerwehrmann beschrieb die Situation folgendermaßen: Dadurch [durch die Menschenmenge] war es uns unmöglich geworden, ohne dass wir uns der Gefahr von Tätlichkeiten aussetzten, unserer Pflicht als Feuerwehrleute nachzukommen. 

Aschaffenburger Bürger beobachteten also nicht nur die Zerstörung der Synagoge ohne einzugreifen, sondern waren sogar bereit, die Löscharbeiten aktiv zu verhindern. Löschwasser war erst wieder zu bekommen, als das Feuer drohte, auf das jüdische Schul- und Rabbinerwohnhaus überzugreifen, das die NSDAP für die Einrichtung eines Kindergartens ins Auge gefasst hatte. Für die Synagoge war es allerdings zu spät. Das 1892 im maurisch-orientalischen Stil errichtete Gebäude brannte völlig aus (hier und im Folgenden vgl. Körner a.a.O., Bd. 2, S. 180 ff.). 
 
Die dritte an den Ausschreitungen beteiligte Gruppe war Teil der Aschaffenburger SS. Fünf SS-Männer in Zivilkleidung brachen am frühen Morgen des 10. November 1938 in die Wohnung der Familie Löwenthal ein, wobei einer von ihnen auf den Hausherrn Ludwig Löwenthal schoss. Anschließend ließen sie den schwer Verletzten in seiner Wohnung zurück, ohne sich noch weiter um ihn zu kümmern. Glücklicherweise überlebte er die schweren Schussverletzungen. 
 
Doch damit waren die Taten des SS-Trupps noch nicht abgeschlossen. Als nächstes entführten die Männer den jüdischen Händler Vogel aus seiner Wohnung und brachten ihn in die Fasanerie. Dort feuerte der Täter, der zuvor auch auf Löwenthal geschossen hatte, nach antisemitischen Beschimpfungen von vorne auf den Mann, der wenig später seinen Verletzungen im Krankenhaus erlag. Der Mann, der in beiden Fällen die Schüsse abgegeben hatte, beschrieb in einem Verhör der Gestapo die Gründe für seine Tat folgendermaßen: Ich hatte durch die Feier des 9. November und die anschließende SS-Vereidigung, wo bekannt geworden ist, dass Herr vom Rath gestorben ist, eine große Wut gegen die Juden. Ich wollte eben einmal einen Juden richtig verhauen. An der Synagoge habe ich gehört, dass die Synagoge von uns [der Partei] angesteckt worden wäre und dass heute Nacht alles erlaubt wäre (zit. nach Körner 1985, S. 18). Das Zitat zeigt, wie wirksam die vorangegangene Hetze gegen Juden in Verbindung mit dem Mord an vom Rath und den Feiern zum gescheiterten Hitler-Putsch war. Weiterhin wird deutlich, wer hinter dem Synagogenbrand steckte und dass den potenziellen Tätern keine größeren Strafen drohten. Das Verfahren gegen vier der fünf an den Gewalttaten gegen Vogel und Löwenthal beteiligten SS-Männer wurde 1939 vom obersten Parteigericht der NSDAP eingestellt, nur der Haupttäter wurde mit einer Verwarnung und der Degradierung zum einfachen SS-Mann bestraft und durfte zwei Jahre lang keine Waffen tragen. Im Verhältnis zu der Schwere der Tat sind diese Strafen nahezu lächerlich. 
 
Am Morgen nach dieser Nacht ging der Terror weiter. Am 10. November wurden 20 jüdische Männer in Aschaffenburg festgenommen, unter ihnen auch Heinz David Solinger. Nach der erneuten Anordnung, so viele Juden wie möglich festzunehmen, wurden am 12. November sechs weitere jüdische Aschaffenburger eingesperrt. Insgesamt saßen nun 25 Gefangene aus der Stadt und sieben aus Goldbach und Großostheim unschuldig und ohne Anklage im Gefängnis. Sieben wurden anschließend ins Konzentrationslager Dachau gebracht, das schon am 9. November instruiert worden war, sich auf 12 000 neue Häftlinge einzustellen. Die übrigen wurden nach unterschiedlich langer Haftzeit entlassen. 
 
Die Aschaffenburger Presse überging oder verharmloste die Geschehnisse fast komplett. Außerdem versuchte sie die Taten als "spontane Volksempörung" und nicht als eine von der Partei geplante und durchgeführte Aktion darzustellen. Der "Beobachter am Main" brachte am 10. November eine kurze Nachricht mit dem Titel "Spontane Empörung der Aschaffenburger Bürger", in der nur erwähnt wurde, dass einige Fenster eingeworfen worden seien. Ein etwas umfangreicherer Artikel mit der Überschrift "Empörung über den feigen Meuchelmord" erschien wenige Tage darauf in der "Aschaffenburger Zeitung". Dieser Artikel berichtete über die "Volksmenge", die jüdische Geschäfte demoliert habe. Als Grund hierfür wurde die begreifliche Erregung [?und] nur zu verständliche Empörung über das Judengesindel, das das deutsche Volk in unsägliches Elend gestürzt hat, aufgeführt (zit. nach Spies a.a.O., Bd. 2, S. 202 f.). 
 
Die Lage der Juden in Aschaffenburg von 1938 bis 1941 Nach der Reichspogromnacht wurde eine Vielzahl von Verordnungen erlassen, die als Vorboten der kommenden Judenvernichtung angesehen werden können. Am 11. November 1938 wurden alle Juden von den deutschen Universitäten ausgeschlossen. Nur einen Tag später folgten drei weitere Verordnungen. Als Strafe für die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk und Reich sollte die Gemeinschaft der deutschen Juden eine Milliarde Reichsmark an das Deutsche Reich bezahlen. Außerdem wurden die jüdischen Bürger durch die Verordnung zur Ausschaltung aus dem deutschen Wirtschaftsleben von fast allen gewerblichen Tätigkeiten ausgeschlossen. Die letzte Anordnung bestimmte, dass die durch die Reichspogromnacht entstandenen Schäden von den Juden auf eigene Kosten zu beseitigen waren. So musste auch die jüdische Gemeinde in Aschaffenburg die Kosten für den Abbruch der niedergebrannten Synagoge übernehmen (Körner 1984, S. 10). 

Im Zusammenhang mit diesen Maßnahmen bejubelte die "Aschaffenburger Zeitung" in einem Leitartikel auf schon bekannt hetzerische Weise, dass endlich die jüdische Laus im deutschen Pelz tüchtig zur Ader gelassen werden sollte. Noch im Dezember 1938 mussten unter anderen der Viehhändler Samson Solinger und der Kleiderfabrikant Max Solinger ihre Firmen aufgeben. Auf Grund der Repressionen verließen im Jahr 1938 weitere 75 jüdische Aschaffenburger Deutschland. 

Im Januar 1939 zog Helen Feingold (damals noch Hella Strauss) mit ihren Eltern und der jüngeren Schwester Gerda zu den Großeltern Samson und Sofie Solinger in die Fabrikstraße in Aschaffenburg. In diesem Monat mussten alle Mitglieder der Familie Solinger ihre Firmen aufgeben. (zit. nach Spies a.a.O., Bd. 2, S. 205 f.). Eine weitere Schikane, unter der die Juden nun zu leiden hatten, war der Beschluss, dass alle Juden ihre Führerscheine, Pkws und Motorräder abliefern mussten. In Aschaffenburg wurden sofort 30 Führer- und zwölf Fahrzeugscheine beschlagnahmt (vgl. Pollnick 1988, S. 219). Außerdem trat am 4. Mai 1939 ein Gesetz in Kraft, das Hausgemeinschaften zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Bürgern verbot. 

Im Jahr 1939 erreichte die Zahl der Auswanderungen ihren Höhepunkt. Heinz David Solinger war einer von 112 Aschaffenburger Juden, die in diesem Jahr Deutschland verließen. Ihre Situation in Aschaffenburg zu dieser Zeit beschreibt Helen Feingold folgendermaßen: Manche Aschaffenburger haben nicht mit uns gesprochen, aber auch wir hielten uns mit Gesprächen zurück, damit den anderen nichts passiert. Man wusste nie, ob man beobachtet wird. Angst war unser ständiger Begleiter? (vgl. hier und im Folgenden Schmittner in "Spessart", Heft 11/2001, S. 7). Sie berichtet von Anfeindungen durch Nachbarn, aber auch von einigen wenigen Menschen die halfen, wie zum Beispiel Frau Feingolds damaliger Arbeitgeber Ottokar Bohata (1874-1950). Dieser gab Helen Feingold eine Stelle in seiner Lederwarenfabrik in der Cornelienstraße 50. Helen Feingolds Mutter Dora hatte nämlich gehört, dass jüdische, beschäftigungslose Mädchen zum Arbeiten nach Polen abtransportiert werden würden und deshalb eine Anstellung für sie gesucht. Natürlich musste Herr Bohata erst seine nicht-jüdischen Angestellten um Erlaubnis fragen. Helen Feingold beschreibt, dass sie ständig der Angst ausgesetzt gewesen sei, ihre Eltern nach der Arbeit nicht mehr zu Hause anzutreffen. Die Nationalsozialisten begannen im Oktober 1940 mit Deportationen aus der Pfalz, Baden und dem Saarland ins Internierungslager Camp Gurs in Frankreich, und es bestand die Gefahr, dass Aschaffenburg als nächstes an der Reihe sein würde. 

Besonders erschütternd ist das Schicksal von Helen Feingolds Großvater mütterlicherseits, Samson Solinger. Er erlitt 1940 einen Blutsturz. Laut Helen Feingold hätte er gerettet werden können, wenn ihn ein Krankenhaus aufgenommen hätte. Dies war jedoch verboten. Und so starb er kurze Zeit darauf. 

Auf welch schamlose Weise die Juden ausgebeutet wurden und wie ihnen das für eine Auswanderung so dringend benötigte Geld vorenthalten wurde, zeigt folgende Begebenheit. Ende 1940 wurde der Familie Solinger befohlen, das Geld, das Bauern dem zu dieser Zeit schon verstorbenen Viehhändler Samson Solinger schuldeten, einzutreiben. Helen Feingold erzählt: Wir dachten noch: Was ist los mit den Nazis? Warum sind sie plötzlich so besorgt um uns Juden? Der wahre Grund offenbarte sich jedoch sehr schnell: Also, die Gelder kamen Anfang 1941 und wir mussten sie auf der Bank einzahlen. Warum? Die Nazis wussten genau, was kommen wird mit den Deportationen und hatten das jüdische Vermögen sicher auf der Bank. 

Das Jahr 1940, das vorletzte Jahr, in dem eine Flucht noch möglich war, nutzten 36 Aschaffenburger Juden zur Auswanderung (vgl. Welsch a.a.O., Bd. 1, S. 77). Im zweiten Halbjahr des Jahres 1941 trat das Auswanderungsverbot für Juden in Kraft. Zuvor konnten sich weitere elf Aschaffenburger Juden ins Ausland retten. Die letzten Juden, die Aschaffenburg verlassen konnten, waren Helen Feingold, ihre Eltern Daniel und Dora Strauss, ihre Schwester Gerda sowie zwei weitere Juden. Fritz und Erna Solinger, die zu dieser Zeit schon in den USA waren, hatten Geld für Bahn- und Schifftickets und die notwendige Bürgschaft besorgt und so die Flucht ermöglicht. Helen Feingold beschreibt die Abreise folgendermaßen: Jeder von uns durfte nach den Ausreisebestimmungen nur einen Koffer mit persönlichen Sachen und zehn Reichsmark mitnehmen. Das war die ganze Habe, mit der wir am 6. Mai 1941 Aschaffenburg und Nazideutschland verließen? 

Die Deportation der Juden von 1941 bis 1942 Die von staatlicher Stelle als "Evakuierungen" bezeichneten Massendeportationen von Juden aus Deutschland begannen 1940. Ab 1941 wurden mainfränkische Juden in Lager oder KZs in Osteuropa gebracht. Für die Organisation und Durchführung der Transporte von Juden aus Mainfranken war die Gestapo Nürnberg-Fürth in Kooperation mit der Gestapo Würzburg verantwortlich (vgl. hier und im Folgenden Liess 2003, S. 73, S. 118 f., 143ff.). Unterfranken, das traditionell einen hohen jüdischen Bevölkerungsteil hatte, wurde durch insgesamt sieben Transporte fast "judenfrei". 

Die ersten Aschaffenburger Juden wurden durch die dritte dieser Deportationen in den Osten verschleppt. Von diesem Transport waren nur Juden unter 65 Jahren betroffen. Die zum Abtransport bestimmten Juden mussten sich zwischen dem 22. und 24. April 1942 im Gartenlokal "Platz'scher Garten" in Würzburg einfinden. Für alle Landkreise und kreisfreien Städte wurde ein Termin festgelegt, an dem die aus diesem Gebiet stammenden Juden zur Sammelstelle in Würzburg gebracht werden sollten. Die 128 Aschaffenburger Juden - unter ihnen auch Karoline Solinger, Helen Feingolds Tante - kamen am 23. April 1942 in Würzburg an. Die Kosten für Transport und Unterbringung, die 80 RM betrugen, mussten die Juden selbst zahlen. Zusätzlich mussten sie alle Wertgegenstände, aber auch andere Dinge, wie Lebensmittel, und einen Teil ihrer Kleider abgeben oder bekamen sie abgenommen. Ihr zurückbleibendes Vermögen und ihre Wohnungen samt Einrichtungen wurden verstaatlicht. 

Am 25. April wurden sie per Zug nach Krasnystaw geschickt, wo sie am 28. April ankamen. Von dort aus ging es zu Fuß nach Krasniczyn, dessen einheimische Juden einen Tag zuvor in Vernichtungslager abtransportiert worden waren. Alle, die die Zeit in Krasniczyn überlebt hatten, wurden wahrscheinlich am 6. Juni 1942 ins Vernichtungslager Sobibor gebracht und dort ermordet. Keiner hat diesen Transport überlebt. 

Um Aschaffenburg bis auf zwölf in Mischehen lebende Juden "judenfrei" zu machen, wurden die verbleibenden jüdischen Bürger, meist alte, kranke oder kriegsgeschädigte Menschen, durch zwei weitere Deportationen nach Theresienstadt gebracht. Vor dem ersten dieser beiden Transporte nahmen sich sieben Aschaffenburger Juden am 6. September 1942 das Leben, darunter auch der Bankier und Wohltäter der Stadt Otto Wolfsthal. 

Vier Tage später, am 10. September 1942 wurden laut der Gestapo-Liste 46 Juden nach Theresienstadt abtransportiert. Hier widersprechen sich die Angaben der Gestapo-Liste und die Statistik in den "Mitteilungen aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg". Dort sind nur 39 Deportierte verzeichnet (vgl. Welsch a.a.O., Bd. 1, S. 77). Fest steht aber, dass sich unter den Deportierten alle noch in Aschaffenburg verbliebenen Mitglieder der Familie Solinger befanden: das Ehepaar Max und Else Solinger und Helen Feingolds Großmutter Sofie Solinger. Keiner von ihnen hat überlebt. 

Die dritte Deportation aus Aschaffenburg fand am 23. September 1942 statt. Die letzten verbleibenden 16 Juden wurden nach Theresienstadt gebracht (vgl. Hübschmann a.a.O.). Damit war die jüdische Gemeinde Aschaffenburg mit ihrer rund 700-jährigen Vergangenheit ausgelöscht. Von den einst 707 Mitgliedern der Gemeinde waren 378 Personen ausgewandert. Laut den Gestapo-Listen wurden 190 Menschen deportiert (die Liste enthält auch die sieben Juden, die durch Selbstmord starben). 352 zogen aus Aschaffenburg weg und 84 starben in dieser Zeit, teilweise aus natürlichen Gründen, teils aber auch indirekt oder direkt an den Folgen der Taten der Nationalsozialisten (vgl. Welsch a.a.O., Bd. 1, S.77). Ungefähr 46 Mitglieder der Familie Solinger sind im Holocaust ermordet worden. Helen Feingold hegt berechtigte Zweifel an der Äußerung vieler Deutscher, sie hätten von den Konzentrationslagern nichts gewusst und hätten geglaubt, die Juden kämen in ein Arbeitslager. Sie stellt die Fragen, die sich jeder Deutsche damals hätte stellen müssen: Alte Leute und Kinder? Was sollten die in einem Arbeitslager? [?] Keiner hat sich gewundert, warum niemand mehr zurückkam? (zit. nach Schmittner in "Spessart", Heft 11/2001, S. 10). 

Initiative zur Neugründung der jüdischen Gemeinde Aschaffenburg Im Landkreis Aschaffenburg leben heute wieder etwa 200 Juden. Offiziell gehören die Aschaffenburger Juden zur jüdischen Gemeinde Würzburg. Viele besuchen aber auch die Frankfurter Synagoge. Bis auf wenige Ausnahmen sind fast alle Zuwanderer aus Osteuropa. 

Im Jahr 2006 wurde eine Initiative ins Leben gerufen, deren Ziel die Neugründung der jüdischen Gemeinde Aschaffenburg ist. Die Initiative hat heute ungefähr 75 Mitglieder. Ein Problem ist, dass viele der osteuropäischen Juden ihre Religion jahrzehntelang nicht ausüben konnten und sie deshalb wieder neu erlernen müssen. Die Vorsitzenden der Initiative zur Neugründung der jüdischen Gemeinde Aschaffenburg, Daniel Hofmann und Leonid Usherenko, versuchen durch das gemeinsame Feiern der jüdischen Feste, bei denen Lesungen auch ins Russische übersetzt werden, und durch Gedenkveranstaltungen den Zuwanderern ihre jüdische Identität und Tradition näher zu bringen. Zurzeit ist die Initiative auf Spenden von Privatleuten angewiesen, um ihre Veranstaltungen durchführen zu können. Laut Daniel Hofmann ist die Zusammenarbeit mit der Stadt nach anfänglichen Schwierigkeiten nun auf einem guten Weg. Seit 2008 wird das Dokumentationszentrum zur Geschichte der Aschaffenburger Juden für die Erledigung der bürokratischen Abläufe, wie zum Beispiel der Aufnahme von Mitgliedern genutzt. Die neue jüdische Gemeinde Aschaffenburg wird eher orthodox ausgerichtet sein, da die Initiative mit Chabad, einer weltweit operierenden jüdischen Organisation mit orthodoxer Einstellung zusammenarbeitet (Gespräch Hofmann am 20. 12. 2007). 

Der Umgang der Stadt Aschaffenburg mit der jüdischen Vergangenheit Um an die Geschichte ihrer jüdischen Bürger zu erinnern, hat die Stadt Aschaffenburg, am 27. Juli 1984 das Dokumentationszentrum Wolfsthalplatz eröffnet. Es befindet sich im ehemaligen Schul- und Rabbinerwohnhaus der jüdischen Gemeinde Aschaffenburg. Die Einrichtung legt im besonderen Maße Wert auf die Jugendarbeit. Es werden aber für alle Altersgruppen themenbezogene Führungen und Lesungen angeboten. Ein eingebauter Thoraschrein macht es möglich, einen jüdischen Gottesdienst abzuhalten. 

Im Jahr 2008 wurde das Dokumentationszentrum in "Museum für jüdische Geschichte und Kultur" umbenannt. In der Dauerausstellung sollen Originalobjekte, die die jüdische Geschichte und Kultur in Aschaffenburg begreifbarer machen, gezeigt werden. Seine Funktionen als Archiv und Kulturraum soll das Museum weiterhin behalten. Weitere Aktivitäten gegen das Vergessen sind zum Beispiel die seit 1978 regelmäßig stattfindenden Einladungen an ehemalige jüdische Aschaffenburger, Gedenkfeiern und die Reise einer Aschaffenburger Delegation mit Oberbürgermeister Klaus Herzog zur Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem bei Jerusalem im Jahr 2001. Außerdem beschloss der Stadtrat im September 2007, dass sich die Stadt Aschaffenburg an der "Stolperstein"-Aktion des Künstlers Günter Demnig beteiligt: Vor den Häusern der ehemaligen jüdischen Aschaffenburger werden Pflastersteine mit ihren Namen und Lebensdaten eingelassen, um an sie zu erinnern. An sieben Stellen in der Stadt sind inzwischen Steine gesetzt, die das Erinnern an 24 Opfer des Nationalsozialismus wach halten (Main-Echo vom 22. 9. 2008). Weitere Stolpersteine sollen im Jahr 2009 folgen. 

Fazit Zusammenfassend kann man sagen, dass es vor der Zeit der Nationalsozialisten zwar Antisemitismus in Aschaffenburg gab, dieser aber besonders während der Weimarer Republik das Zusammenleben zwischen Juden und Nicht-Juden kaum beeinträchtigte. Juden und Nicht-Juden lebten im Großen und Ganzen harmonisch miteinander. Die noch heute gängige Erklärung, der schnelle Aufstieg der Nazis und der kaum vorhandene Widerstand aus der nicht-jüdischen Bevölkerung gegen die Verbrechen an den deutschen Juden sei auf eine kontinuierliche Entwicklung des Judenhasses seit dem Mittelalter bis 1933 zurückzuführen, stimmt also zumindest im Hinblick auf Aschaffenburg nicht. Vor diesem Hintergrund ist die schnelle und radikale Umkehr des Verhaltens der meisten Aschaffenburger gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern nach Hitlers "Machtergreifung" besonders erschreckend. 

Außerdem lässt sich an Hand der Facharbeit auch zeigen, dass es fast unmöglich war, nichts von den Verbrechen der Nazis gegen die Juden bemerkt zu haben. Die Hetze, die die Nationalsozialisten gegen Juden betrieben, konnte man fast täglich in der Zeitung verfolgen. Auch die anti-jüdischen Gesetze wurden veröffentlicht, und Ereignisse, wie den Boykott jüdischer Geschäfte oder die Reichspogromnacht, haben viele Aschaffenburger als Zuschauer miterlebt. 

In den letzten Jahren gab es eine Vielzahl an Bemühungen, die jüdische Geschichte Aschaffenburgs wieder in Erinnerung zu rufen, und es bleibt zu hoffen, dass es bald wieder eine jüdische Gemeinde gibt, die in das öffentliche Leben der Stadt integriert ist und es erneut bereichert. 

Der "Spessart" bietet Schülern und Studenten die Möglichkeit, außergewöhnliche regionalbezogene Fach- oder Zulassungsarbeiten zu veröffentlichen. Die vorliegende Facharbeit von Lisa Groh-Trautmann wurde 2008 im Leistungskurs des Karl-Theodor-von-Dalberg-Gymnasiums in Aschaffenburg zur Abiturprüfung angenommen. 
 
 
Bearbeitete Quellen und Literatur: 

Gespräch mit Daniel Hofmann, Aschaffenburg, am 20. 12. 2007; 

Hübschmann Ekkehard, Arbeitsgemeinschaft Fränkisch-Jüdischer Geschichte: http://www.agfjg.de/datenbanken/theresienstadt-liste230942.pdf.o.D.,aufgerufen am 20. 1. 2008; 

Korrespondenz mit Dr. Heinz Eder vom 27.7.2007; 

Korrespondenz mit Helen Feingold, New York, vom 4. 12. 2007 

Körner Peter (Red.), Vergangen, nicht vergessen - Sieben Jahrhunderte jüdische Gemeinde in Aschaffenburg. Wegweiser durch das Dokumentationszentrum Wolfsthalplatz. Hg. Stadt Aschaffenburg 1984; 

ders., Vergangen, nicht vergessen: 1267-1942 - 700 Jahre jüdische Gemeinde. Sondersendung Bayerischer Rundfunk, Manuskript vom 3. 3. 1985; 

ders., Biographisches Handbuch der Juden in Stadt und Altkreis Aschaffenburg, Aschaffenburg 1993; 

ders., Der November-Pogrom 1938 in Aschaffenburg. Ein Forschungsbericht, in: Mitteilungen aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg, Bd. 2, Aschaffenburg 1987-89 

Liess Albrecht (Red.), Wege in die Vernichtung. Die Deportation der Juden aus Mainfranken 1941-1943. Hg. Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, München 2003; 

Pollnick Carsten, Die Entwicklung des Nationalsozialismus und Antisemitismus in Aschaffenburg 1919-1933, Aschaffenburg 1984 

ders., Die NSDAP und ihre Organisationen in Aschaffenburg 1933-1939, Aschaffenburg 1988; 

Schmittner Monika, Aschaffenburg, ein Schauplatz der bayerischen Frauenbewegung, Aschaffenburg 1995; 

dies., Helen Feingold, geborene Strauss: Eine deutsch-amerikanische Jüdin in Aschaffenburg, der Stadt ihrer Kindheit und Emigration, in: "Spessart" Heft 11/2001, S. 3-10; 

dies., Vor 100 Jahren wurde die Zeitschrift "Spessart" ins Leben gerufen, in: "Spessart", Heft 4/2006, S. 3-29; 

Spies Hans-Bernd, In Aschaffenburg und Damm wohnende Juden und ihre wirtschaftlichen Verhältnisse (1607-1700), in: Mitteilungen aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg Bd. 7, Aschaffenburg 1987-1989; 

ders., Die "Reichskristallnacht" im Spiegel der Aschaffenburger Presse, in: Mitteilungen aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg, Bd. 2, Aschaffenburg 2002-04 

Welsch Renate, Vergangenheit bewältigen - Zukunft gestalten. In: Mitteilungen aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg Bd. 1, Aschaffenburg 1983-86 

Quellen für Bildunterschriften: 

Grimm Alois Aschaffenburger Häuserbuch III, Aschaffenburg 1994 

Ders. Aschaffenburger Häuserbuch IV, Aschaffenburg 1996 

Ders. Aschaffenburger Häuserbuch V, Aschaffenburg 2001 

Wege in die Vernichtung, Die Deportation der Juden aus Mainfranken 1941 - 1943, Begleitband zur Ausstellung des Staatsarchivs Würzburg, München 2003 (Bild 18). 

Bildnachweise: 

Bilder 1 bis 3, 10, 12 und 13, 15 bis 17 Bildarchiv Eymann; 4 Foto Alfen/Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg; 5 bis 7 Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg; 8 und 9 privat; 11 und 14 Verlagsarchiv; 18 Klaus Eymann; 19 Nina Körner 
 
 
 
 
 
 
  

 

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Stand: 30. Juni 2020