Baisingen Friedhof 154.jpg (62551 Byte)  Segnende Hände der Kohanim auf einem Grabstein in Baisingen


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Gießen (Hessen)
Texte/Berichte zur jüdischen Geschichte der Stadt -
Berichte aus dem jüdischen Gemeinde- und Vereinsleben  

Die nachstehend wiedergegebenen Texte mit Beiträgen zur jüdischen Geschichte in Gießen wurden in jüdischen Periodika gefunden. 
Bei Gelegenheit werden weitere Texte eingestellt.   
     
Die Texte hat dankenswerterweise Susanne Reber abgeschrieben
    
  
 

Übersicht:  

bulletBerichte aus dem jüdischen Gemeinde- und Vereinsleben   
-  Die Befürworter von liberalen Reformen in der Gemeinde formieren sich (1845)   
-  Leichenteile aus der Anatomie der Universität werden auf Initiative von Rabbiner Dr. Levi nun würdiger beigesetzt sowie andere Mitteilungen (1860) 
-  Ein jüdisches Brautpaar lehnt den traditionellen Brauch bezüglich der Chaliza ab (1862)  
-  Die liberalen Reformen sind an Gießen "so ziemlich alle ... spurlos vorübergegangen" (1863)  
Über jüdische Strafgefangene im Großherzogtum Hessen (u.a. Marienschloß) - Lehrer Levi aus Angenrod wird Lehrer an der Vorschule des Gymnasiums in Gießen - Umbenennung der "Judengasse" in Gießen in "Rittergasse" (1880) 
-  Die Israelitische Religionsgesellschaft bildet sich (1886)   
-  Über die Zahl der jüdischen Gefängnisinsassen in Hessen - Bericht von Rabbiner Dr. Levi (1888)  
Z
um Ergebnis der Reichstagswahl in Gießen und dem Erfolg der Antisemiten (1890)  
-  Antisemitische Provokationen (1891)  
-  Die Beeidigung der Rekruten wird ohne konfessionelle Trennung vorgenommen (1891)  
-  (Kleine) Niederlage für die Antisemiten (1891) 
D
er Gelehrte Carl Vogt äußert sich über den Antisemitismus (1892)  
Über den "Verein zur Beförderung des Handwerks unter den Israeliten in Oberhessen" (1894)   
-  Erfolgreiche Arbeit des Talmud-Tora-Vereins (1894)   
-  Gründe für die Abspaltung der Israelitischen Religionsgesellschaft und Hoffnung auf Wiedervereinigung der beiden Gemeinden (1894)   
-  Neun Jahre Israelitische Religionsgesellschaft - ein orthodoxer Rabbiner wird gewählt (1895) 
Gründung eines "Vereines für jüdische Geschichte und Literatur" (1902)    
Vortrag im "Verein zur Förderung des Handwerks unter den Juden in Gießen" (1902)   
-  Vortrag von Dr. Adolf Kohut im "Verein für jüdische Geschichte und Literatur" (1903) 
Vortrag von Rabbiner Dr. Leo Hirschfeld im "Verein der Sabbatfreunde" (1906)   
Vortrag von Rabbiner Dr. Cahn (Fulda) im "Verein der Sabbatfreunde" (1907)    
-  Generalversammlung des Israelitischen Frauenvereins (1909)   
-  Über die Zuschläge auf die Einkommensteuer in den einzelnen jüdischen Gemeinden im Bezirk Gießen (1909)   
-  Der antisemitische Kandidat in Gießen siegt bei der Reichstagswahl (1911)  
-  Aus der Gießener Medizinerschaft sollen alle jüdischen Personen ausgeschlossen werden (1919)  
-  Jüdische Schüler werden belästigt, Fenster jüdischer Wohnungen und der Synagoge werden eingeworfen (1920) 
Der Landtag von Hessen beschäftigt sich mit den antisemitischen Exzessen an der Universität Gießen (1921)    
-  Vortrag von Rabbiner Dr. Dienemann vor dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (1921)  
-  Gemeindeveranstaltungen im Winter 1921/22 (1921)  
-  Vortrag von Oberkantor Magnus Davidsohn in der Synagoge (1922) 
40-jähriges Bestehen der Israelitischen Religionsgesellschaft (1927)  
Das Lektorat für rabbinische Wissenschaften an der Universität soll wieder eingerichtet werden - 60-jähriges Bestehen der Synagoge der Religionsgemeinschaft - Zum Tod von Justizrat Dr. Katz  (1927)  
Verworfene Revision des Nationalsozialisten Haselmeyer - Renovierung des Gemeindehauses der Religionsgemeinde (1927)  
An den Universitätskliniken soll eine Koscherküche eingerichtet werden und andere Mitteilungen (1927)  
Kinderkostümfest des israelitischen Frauenvereins (1928) 
Landeskonferenz der jüdischen Lehrerschaft Hessens in Gießen (1929)  
Vortragsabend über Palästina  -  Wahlen in der orthodoxen Religionsgesellschaft (1929)   
Mendelssohnfeier der liberalen Religionsgemeinde (1929)  
Abendveranstaltung des Jüdischen Jugendbundes (1929)   
Erfolge der Nationalsozialisten bei den Wahlen der Gießener Studentenschaft - antisemitischer Vorfall gegen das Gießener Stadttheater in Alsfeld (1930)  
-  Die jüdischen Pferdehändler sind vom Pferdemarkt ausgeschlossen (1933)  
-  Vortrag von Rabbiner H. Mayer aus Frankfurt in der Israelitischen Religionsgesellschaft (1934) 
-  Kundgebung des "Misrachi" (1935)  
-  Gemeindebeschreibung von 1936  

    
    
Berichte aus dem jüdischen Gemeinde- und Vereinsleben   
Die Befürworter von liberalen Reformen in der Gemeinde formieren sich (1845)  

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 9. Juni 1845: "Gießen, 20. Mai (Frankfurter Journal) Die Reformbewegungen im Judentum haben auch hier begonnen. Am 11. d. vereinigten sich nämlich die Freunde des Fortschritts aus der hiesigen israelitischen Gemeinde, zu denen die Mehrzahl derselben gehört, zu einer gemeinsamen Besprechung über die jetzt, mit Rücksicht auf die nahe bevorstehende zweite Rabbinerversammlung, im Interesse der heiligen Sache vorzunehmende Schritte. Sicherm Vernehmen nach hat man vorerst eine Gegenerklärung gegen die Protestation der 77, jedem zeitgemäßen Fortschritte abgeneigten und an den abgelebten Talmudismus (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Talmud) sich anklammernden Rabbinen, welche nächstens der Öffentlichkeit übergeben werden dürfte beschlossen und eine zweite Versammlung auf den 18. dieses Monats verabredet."       

  
Leichenteile aus der Anatomie der Universität werden auf Initiative von Rabbiner Dr. Levi nun würdiger beigesetzt sowie andere Mitteilungen (1860)  

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 18. September 1860: "Aus dem Großherzogtum Hessen, im August (1860) (Privatmitteilung). Die Religion der Liebe ist nicht diejenige, welche von der Liebe spricht, sondern jene, welche diese Liebe durch Taten zeigt; deshalb sah sich ein Rabbiner veranlasst, einen Missstand mit Erfolg zu bekämpfen, welche auf dem Standpunkte des Judentums mit der dem Nebenmenschen schuldigen Achtung und Liebe sich nicht verträgt. – An der Universität zu Gießen war es nämlich bisher Gebrauch, dass die Überreste der menschlichen Leichen, nachdem sie auf dem Anatomietische der Wissenschaft gedient hatten, ohne Bekleidung, ja sogar ohne Sarg, durcheinander in ein an der Friedhofsmauer gegrabenes Loch geworfen, und da, nicht als ob sie die Überreste einer menschlichen Leiche gewesen wären, verscharrt wurden. Es sind zwar die Leichen von Verbrechern, welche der Anatomie überliefert werden, aber auch im Schuldvollen sollen wir nach den Lehren des Judentums den Bruder achten (5. Buch Mose 25, 3) und die Leiche des Gehängten soll nicht über Nacht am Galgen bleiben (daselbst 21, 23), weshalb der großherzogliche Rabbiner Dr. Levi zu Gießen sich aufgefordert fühlte, wegen dieses das religiöse Gefühl tief verletzenden Verfahrens gegen die menschliche Leiche bei der betreffenden Staatsbehörde Beschwerde zu führen, in Folge deren auf eine an den Professor der Anatomie ergangene Verfügung derselbe sich bereiterklärte, die Überreste der Leiche eines Individuums christlichen Glaubens in einem Sarge gesondert und die eines Individuums mosaischen (vgl. https://de.wiktionary.org/wiki/mosaisch) Glaubens auf eine ähnliche Weise auf einem israelitischen Friedhofe beerdigen zu lassen. Es genügt diese einfache Mitteilung, um auf gleiche Fälle in anderen Universitätsstädten aufmerksam zu machen. 
Die Rabbiner-Witwen-und-Waisen-Kasse zahlt jetzt an zwei Witwen verstorbener Vereinsmitglieder jährliche Gehalte aus, welche größtenteils aus den Zinsen der Vereinskasse bestritten werden. Es ist zu verwundern, dass die Kasse, welche auf diese Weise bereits ihre segensreichen Früchte spendet, nicht einer größeren Teilnahme sich erfreut, insbesondere, dass sie noch immer von den israelitischen Gemeinden unbeachtet bleibt, welche durch eine Beteiligung an derselben auf eine liebevolle und höchst billige Weise den Hinterbliebenen ihrer Rabbiner die ihnen schuldige Unterstützung zusichern könnten. Auf eine solche Beteiligung der Gemeinden hoffte jene Generalversammlung, welche am 22. Oktober 1857 zur Frankfurt a. M. die Statuten der Kasse revidierte und denselben folgende Abstimmung hinzufügte: 
C. Beteiligung der Gemeinden § 16. Die Gemeinden respektive Rabbinatsbezirke sind berechtigt, ihre angestellten Rabbiner und Prediger in die Kasse einzukaufen und die Beiträge für dieselben zu entrichten. Die näheren Modalitäten sind von der Direktion unter sorgfältiger Berücksichtigung aller bezüglichen statutenmäßigen Bestimmungen mit den betreffenden Gemeinden, respektive Rabbinatsbezirken zu vereinbaren. Eine Bestimmung, welche von den israelitischen Gemeinden aus vielen Gründen die sorgfältige Beachtung verdient."       

  
Ein jüdisches Brautpaar lehnt den traditionellen Brauch bezüglich der Chaliza ab (1862)    
Anmerkung: Zum Thema Chaliza vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Chalitza-Schuh  sowie den Artikel http://juedisches-recht.org/mc-famil-r-schwagerehe.htm   
Dazu auch zum jüdischen Scheiderecht https://de.wikipedia.org/wiki/Scheidebrief  

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 19. August 1862: "Gießen, im August (Privatmitteilung) Bei Gelegenheit einer Trauung, im Begriffe, dem Bräutigam und seinem Bruder die Versprechen wegen Ketubba (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ketubba) und Chaliza (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Chalitza-Schuh) abnehmen zu lassen, erklärte mir Ersterer, im Angesichte und mit Zustimmung des Letzteren, wie auch im Angesichte und mit Zustimmung seiner Braut und ihres Vaters: 'Herr Rabbiner! Ich und mein Bruder und meine Braut, wir alle wollen nicht, dass, wenn ich ohne Kinder sterben sollte, diese meine künftige Frau irgendeine Verbindung mit diesem meinem Bruder haben soll, er soll sie weder heiraten noch ihr Chalizah geben; es ist das ihr und mein bestimmter Wille. In Gegenwart dieser beiden Zeugen geben mir alle drei Ihnen diese Erklärung und dass wir mit dieser Voraussetzung unsere Ehe schließen.' Auf meine Anfrage, ob er diese Voraussetzung zur Bedingung der Gültigkeit der Trauung mache, ward er stutzig und erwiderte: Nein, das nicht, er wolle sich ohne Vorbehalt trauen lassen, nur aber bitte er mich, von seiner und seines Bruders und seiner Braut geschehenen Erklärung amtliche Notiz zu nehmen, was denn auch geschehen ist. Eine ganz ähnliche Erklärung machte mir später ein Bräutigam in Verbindung mit seiner Braut, dessen Bruder in Amerika war. Beide Ehepaare sind inzwischen mit Kindern gesegnet und beide Vorkommenheiten darum ohne weitere praktische Folgen geblieben. Anders ist es dem nachstehenden vielleicht noch niemals vorgekommenen Falle. Vor etlichen Jahren wanderte ein junger Mann nach Amerika aus, dessen Bruder im Begriffe war, zu heiraten, nachdem er zuvor diesem den gewöhnlichen Chaliza-Vertrag ausgefertigt, also dann erklärt hatte, vorkommenden Falles seiner hinterbliebenen Witwe Chaliza erteilen zu wollen. Das junge Ehepaar ward mit einem Kinde gesegnet, welches aber starb. Und nun brach über dasselbe der Geist des Unfriedens herein, der so weit ausartete, dass es zu tätlichen Misshandlungen und in beiden Ehegatten die Überzeugung zur Reife kam, dass sie fortan unmöglich mehr zusammenbleiben könnten. Sie kamen daher gütlich überein, sich scheiden zu lassen, was nach unseren Landesgesetzen geschehen kann, indem sie eine desfallsige gemeinschaftliche Eingabe bei dem Landesherren einreichen ließen. Die Sache war schon durch alle Instanzen gerichtlich verhandelt und zulässig befunden worden, ich hatte bereits mein zustimmendes rabbinisches Gutachten darüber abgegeben, und das Ehepaar harrte täglich des allerhöchsten Ausspruchs seiner Scheidung, die freilich nur unter der Bedingung erfolgt wäre, dass ihr die religiöse Scheidung über die Erstellung eines Scheidebriefes vorangehen und nachfolgen müsse. Da wird der Mann plötzlich krank und stirbt. Anstatt von Menschen, sind sie nun von Gott geschieden. Und nun ist die Frau eine Witwe. Aber ihr Schwager ist in Amerika, und nicht allein das, er sitzt dort wegen infamierender Handlungen auf eine längere Reihe von Jahren im Zuchthaus. Könnte und wollte die Frau auch nach Amerika reisen (wie vor einigen Jahren eine solche in derselben Absicht hierher!), so könnte ihr Schwager doch den Chaliza-Akt nicht vollziehen, weil er gefangen ist. Auch macht sie geltend, dass sie ja auf dem Punkte gestanden habe, von ihrem Manne geschieden zu werden, sie habe von diesem nichts mehr wissen wollen und ebenso wenig und noch weniger von seinem Bruder. Die Frau ist Braut und will von mir getraut sein. Es wäre mir sehr erwünscht, über diesen gewiss höchst seltenen Fall in diesen Blättern die Meinung solcher Männer zu vernehmen, die gleich mir, gewohnt sind, in allem, was die jüdischen Ehegesetze betrifft, sich möglichst an den Eben Haeser (vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Even_Ha'ezer) zu halten. Rabbiner Dr. Levi."   

  
Die liberalen Reformen sind an Gießen bislang "so ziemlich alle ... spurlos vorübergegangen" (1863)   

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 29. Dezember 1863: "Gießen, im Dezember (1863). (Privatmitteilung) Wer unsern Gottesdienst besucht, wird sich wundern, zu vernehmen, dass an uns so ziemlich alle Reformen, die sich im Schoße anderer Gemeinden segensvoll entwickelt haben, spurlos vorübergegangen sind, die von rabbinischen Autoritäten eingeführten Kürzungen der Gebete, werden hier ignoriert und die jeden Israeliten mit Pietät erfüllende hebräische Sprache wird von dem mit dürftiger Orgelbegleitung exekutierten Chor in einer Weise gesungen und rezitiert, dass hierbei der ästhetische Sinn eines jeden gebildeten Menschen auf das Unangenehmste berührt wird. Wie ist es unter solchen Verhältnissen möglich, sich zu erbauen und zu erheben? Was sollen unsere Kinder für einen Begriff von Gottesverehrung bekommen, wenn wir sie in die Synagoge führen? Unser Rabbiner Dr. Levi, der bekanntlich ein trefflicher und gefühlvoller Redner ist, predigt in ganz unregelmäßigen, möglichst großen Zwischenräumen und werden hierdurch diejenigen Gemeindeangehörigen, welche namentlich eine Predigt hören wollen, gar nicht gewahr, wenn eine solche überhaupt gehalten wird. Unsere Synagoge ist allerdings in Bezug auf ihren Platz ein der Religion spottendes Gebäude (siehe zur alten Synagoge in der früheren Zozelsgasse), sie steckt in einer schmutzigen Gasse zwischen Ökonomiegebäuden (landwirtschaftliche Gebäude), worin, Dank unserem energischen Vorsitzenden, während des Gottesdienstes Frucht gedroschen oder die Dislokation von Rindvieh (Rinder werden aus oder in der Stall getrieben) vorgenommen wird; es entstehen die skandalösesten Störungen. Inzwischen ist die gegründete Hoffnung vorhanden, dass im nächsten Jahre mit dem Neubau einer Synagoge begonnen wird, wozu bereits ein passender Platz gekauft ist, und wenn wir auch dermalen kein würdiges Gotteshaus besitzen, so dürfte und müssten doch seitens des Vorstandes und des Rabbinen (Rabbiner Dr. Benedikt Levi) ernstliche Maßregeln vorgenommen werden, um dem gegenwärtig wahrhaft jämmerlichen Zustande der Kultusangelegenheiten ein Ende zu machen. Es ist durchaus nicht richtig, mit der Einführung einer zeitgemäßen Liturgie bis zur Vollendung der neuen Synagoge zu warten, Reformen sind umso wirksamer, wenn sie vorbereitet werden; mit der Abschaffung von ganz unpassenden, spezifisch christlichen Melodien hat man nicht zu zögern und andere, von nationalem Charakter getragene, zu substituieren. Ich verweise hierbei auf die wertvollen Arbeiten des Herrn Weintraub (wahrscheinlich ist der Königsberger Kantor Hirsch Weintraub gemeint). Der Grund, dass auch bei einem reformierten Gottesdienste dessen Besuch ein schwacher bleibt, ist eine überwundene Phrase. Wie dem auch sei, der gegenwärtige Kultuszustand muss gründlich reformiert werden, wenn der größte Teil der Gemeinde nicht den Sinn für das Religiöse und für eine öffentliche Andachtsübung ganz und gar verlieren soll. Mögen diese Zeilen die Berufenen animieren, die religiösen Verhältnisse von Grund auf zu heben und zu bessern! Es soll mich freuen, Ihnen bald von einer Neuerung Anzeige machen zu können." 
Anmerkung: zu Kantor Hirsch Weintraub: http://worldcat.org/identities/viaf-98296577/         

  
Über jüdische Strafgefangene im Großherzogtum Hessen (u.a. Marienschloß) - Lehrer Levi aus Angenrod wird Lehrer an der Vorschule des Gymnasiums in Gießen - Umbenennung der "Judengasse" in Gießen in "Rittergasse" (1880)      

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 16. März 1880: "Gießen, 8. Februar (1880). Über den geringen Prozentsatz, den die Juden des Großherzogtums Hessen zu den Strafgefangenen des Landeszuchthauses Marienschloß liefern, ist bereits voriges Jahr in diesem Blatte berichtet worden. Es liegt mir nun aber der 20. Hauptrechenschaftsbericht des Vereins zur Unterstützung und Beaufsichtigung der aus den Strafanstalten des Landes Entlassenen aus den Jahren 1876-1877 vor. Darnach haben im Jahre 1878 in den 4 Strafanstalten Marienschloß, Darmstadt, Mainz und Dieburg im Ganzen 2029 Gefangene sich befunden, darunter nur 28 Juden, also der 72. Teil, während diese doch schon den 33 Teil der Einwohnerschaft des Landes bilden. Es sollte mich wundern, wenn die Herren Antisemiten diese Erscheinung nicht damit erklären wollten, dass es den Juden an Mut zur Verübung von Schlechtigkeiten fehle. Ad vocem Antisemiten, habe ich schon oft bei mir gedacht: 'nomen omen', oder 'kischmo ken hu' (= 'wie sein Name, so ist er'). Denn es gibt für diese Herren schlechterdings keine bessere Bezeichnung, als die sie sich selbst beilegen: 'antisemitisch'. Ihr ganzes liebloses Gebaren ist antisemitisch, das heißt anti dem Geiste der Liebe, der sich in den Männern semitischen Blutes Alten und Neuen Testaments kund gibt, jenen Männern, denen die antisemitischen Herren der Gegenwart nicht würdig wären, die Schuhriemen zu lösen. - Sodann ist ein weiterer Fortschritt zu Gunsten unserer Glaubensgenossen im Schulwesen des Großherzogtums zu verzeichnen. Der seitherige Elementarlehrer Levi zu Angenrod ist zum Lehrer an der Vorschule des hiesigen (= Gießen) Gymnasiums ernannt worden, das heißt nicht zum Religionslehrer, sondern zum ordentlichen Klassenlehrer. Vielleicht der erste derartige Fall in Deutschland. - Das Dritte, was ich Ihnen zu melden habe, dürfte vielleicht da und dort einen Sporn zur Nachahmung abgeben. Ich hatte an unseren Stadtvorstande folgendes Schreiben gerichtet: ...'Bei dieser Gelegenheit wollte ich mir die Bitte erlauben, Sie möchten geneigt sein, der im Neustadter Stadtviertel gelegenen sog. Judengasse einen anderen Namen zu geben. Seit ich hier lebe, also seit mehr denn 50 Jahren, wohnen meine Glaubensgenossen, gegenwärtig 120 Familien, überall in der Stadt, nur nicht in jener Gasse. Herr H. B. allein hat einige Zeit zur Miete darin gewohnt, ist aber auch daraus weggezogen. Es wäre an der Zeit, dass aus den Mauern unserer aufgeklärten Stadt, mit so humanem Vorstand an der Spitze, ein solches mittelalterliches zweck- und gegenstandsloses Überbleibsel schwinde, das nur geeignet ist, in einem Teile ihrer Einwohnerschaft unangenehme Empfindungen zu wecken. Mit- und Nachwelt Gießens braucht nicht daran erinnert zu werden, dass es hier jemals ein Ghetto gegeben hat. Und die Anwohner jener Gasse werden die Umtaufe derselben gewiss nicht ungern vernehmen.' Unser Stadtvorstand ist hierauf mit größter Bereitwilligkeit eingegangen und hat sofort die Judengasse nach einem benachbarten den Namen 'Ritter' führenden Hause in eine 'Rittergasse' umgetauft. Vivat sequentes!  Dr. Levi."      

 
Die Israelitische Religionsgesellschaft bildet sich (1886)   

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 15. November 1886: "Gießen, 12. Nov. Endlich nach langem Kampfe ist das Werk vollbracht. Es bildet sich in Gießen eine orthodoxe Separat-Gemeinde. Ein großer Teil der hier wohnhaften Juden hat bereits ihren Austritt aus der Religionsgemeinde erklärt und haben sich der neuen Religionsgesellschaft alle diejenigen angeschlossen, die Herz und Sinn für die alten Traditionen des Judentums und für deren heilige Interessen bewahrt haben.
Die Veranlassung zu dieser Trennung wurde durch zwei Ursachen begründet.
Erstens sind von den Leitern der alten Gemeinde unsere religiösen Bedürfnisse total vernachlässigt worden, so ist z.B. in der großen Gemeinde, die aus 140 Mitgliedern besteht, für keinen Religionsunterricht gesorgt worden. Wem die Mittel fehlten, seinen Kindern Privatunterricht erteilen zu lassen, was doch mit schweren Kosten verknüpft war, dem sind sie groß geworden und aufgewachsen wie die Heiden, und leider ist hier eine ziemliche Anzahl von jungen Leuten – vorhanden -, die nicht hebräisch lesen können.
Zweitens dadurch, dass eine große Anzahl der hier wohnenden Juden, weil sie das hohe Einzugsgeld, das ihnen abgefordert wurde, nicht bezahlen konnten – nicht stimmberechtigt waren, also zu den Fremden gezählt wurden – die kein Recht haben, ihre Wünsche zum Ausdruck zu bringen – was die Leitung der Gemeinde solchen Männern anvertraut, die wohl im allgemeinen Verkehr für ehrenhaft gelten, aber für die heiligen Pflichten des Judentums wenig übrig hatten. – Möge es der jungen Gemeinde gelingen, die hohen Kosten, die nun entstanden, aufzubringen. Amen - so mehrte es sich und so breitete es sich aus (2. Mose 1,12)"     

  
Über die Zahl der jüdischen Gefängnisinsassen in Hessen - Bericht von Rabbiner Dr. Levi (1888) 

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 15. März 1888: "Gießen, im März (Privatmitteilung). Die Zahl der Insassen der Gefängnisse eines Landes gibt bekanntlich einen ziemlich sicheren Maßstab für die, inmitten der Einwohnerschaft desselben herrschende Moralität oder sittliche Bildung ab. Da möge denn, wie in früheren Jahren schon einmal, in dieser Zeitung auf das günstige Prozentverhältnis hingewiesen werden, in welchem die jüdischen Sträflinge des Großherzogtums Hessen zu den Gesamtsträflingen des Landes stehen. Die Juden des Großherzogtums bilden 3, sage 3 % der Einwohnerschaft desselben. Nach dem mir vorliegenden '24. Hauptrechenschaftsbericht der Großherzoglichen Zentralbehörde des Vereins zur Unterstützung und Besserung der aus den Strafanstalten Entlassenen für die Jahre 1884 und 1885' befanden sich damals in den 4 Strafanstalten des Landes in Darmstadt, Mainz, Dieburg und Marienschloss (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kloster_Marienschloss) nur 20 Israeliten. Diese trugen also nicht 3 % der Gefängnisse bei, gewiss ein günstig sprechendes Verhältnis, das auch wie mir bekannt ist, in den beiden letzten Jahren keine Änderung erfahren hat."     

    
Zum Ergebnis der Reichstagswahl in Gießen und dem Erfolg der Antisemiten (1890)      

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 18. April 1890: "Gießen, 14. April. Der seltsame Ausfall lenkt die allgemeine Aufmerksamkeit auf unsere Stadt. Man hat mich schon mehrmals gefragt, warum vorzugsweise in den Provinzen Oberhessen, der großherzoglichen und ehemals kurhessischen, Antisemiten in den Reichstag gewählt worden seien, und meinten, es müsse da etwas faul im Staate sein, d.h. die Juden der betreffenden Gegenden müssen wohl besonders durch wucherische und betrügerische Geschäfte, die sie trieben, Abneigung und Hass bei den Bewohnern erzeugt haben. Nichts ist falscher als diese Annahme. Die Juden hierum stehen moralisch und religiös hinter anderen jüdischen Gemeinden gleicher Lebensstellung nicht zurück; zeichnen sich auch nichts weniger als durch größere Wohlhabenheit aus. Es gibt nur wenig Wucherer oder betrügerische Handelsleute unter ihnen; und diese wenigen sind von ihren eigenen Glaubensgenossen ebenso missachtet, wie von den christlichen. Auch gibt es verhältnismäßig ebenso viel, wo nicht mehr christliche als jüdische Wucherer und Betrüger in den Orten, die antisemitisch gewählt haben. Von den wucherischen Hetzern selbst nicht zu reden. Der Grund, warum die antisemitischen Hetzprediger in vielen Orten, besonders in Dörfern so viel Anklang gefunden haben, ist hauptsächlich der, weil in den von ihnen veranstalteten Versammlungen keine Gegenredner aufgetreten respektive zugelassen worden sind. In Gießen und Friedberg und anderen größeren Orten würden ihnen kompetente Gegner entgegengetreten sein, und gewiss mit Erfolg, an denen es in den kleineren Orten fehlte. Lassen Sie giftspeiende Blätter wie in Kassel und Marburg auch anderwärts erscheinen und von Haus zu Haus transportiert werden und deren Inhalt in mündlicher Rede mit lügnerischen Tatsachen und würzigen Anekdoten schmücken; sie werden überall beim leichtgläubigen, den Juden ohnehin aus ganz anderen Gründen abgeneigten Landvolke Glauben und Anklang finden. Ob von Seiten der Vorstände unserer Gemeinden dem nicht zu begegnen gewesen wäre und künftig in ähnlichen Fällen nicht zu begegnen sein möchte, ist eine andere Frage. Vielleicht wären da sogenannte Reiseprediger am Orte, welchen Gedanken ich schon einmal dem Vorstande des deutsch-israelitischen Gemeindebundes nahelegen wollte. In gleicher Weise wollte ich diesem auch schon den Wunsch aussprechen, womöglich aller Orten, wo ein antisemitisches Blatt erscheint, einen Mann zu bestellen, der ihm in geeigneter Weise in Wort und Tat entgegentrete. Kein Opfer, dafür gebracht, wäre zu groß."  
Anmerkung: vgl. https://www.wikiwand.com/de/Reichstagswahl_1890: In Gießen wurde der Antisemit Wilhelm Pickenbach gewählt: https://www.wikiwand.com/de/Wilhelm_Pickenbach
Siehe auch den Artikel Rabbiner Dr. Levi äußert sich über den Antisemitismus (1890)
        


Antisemitische Provokationen (1891)   

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 15. Januar 1891: "Gießen, 8. Januar (1891). Ein würdiges Seitenstück zu dem von Ihnen gemeldeten Wormser Vorgang ist leider von hier zu berichten. Am Samstag, den 3. dieses Monats, nachts 12 Uhr, betraten zwei als durchaus ehrenwert und besonnen bekannte junge Leute, ein Christ und ein Jude, das Seitenzimmer des Café Hetler und ließen sich an einem leeren Tische nieder. Außer ihnen befanden sich in dem Raume nur noch 3 Korpsstudenten und ein Fortassessor, die ohne jede Veranlassung die Letztgekommenen zu hänseln und aufzureizen begannen, Äußerungen wie: 'Kerle saufen nur Wasser,' 'müssen die Kerle 'rausekeln', 'werft doch die Judenbuben 'raus', usw. fielen, ohne von der Gegenseite, die augenscheinlich jeden Auftritt vermeiden wollte, beachtet zu werden. Schließlich erhob sich einer dieser vielversprechenden Jünglinge und fasste, nachdem er die zum Hauptraume führende Türe geschlossen und eine andere geöffnet hatte, den einen der beiden Herren mit dem Ausruf an die Brust: 'Junger Mann, wollen Sie gutwillig herausgehen?' Bei der sich naturgemäß entwickelnden Prügelei (4 gegen 2) wurde sogar von dem Hirschfänger des Forstassessors Gebrauch gemacht."       
 
Mitteilung in der "Allgemeinen Jüdischen Zeitung" vom 22. Januar 1891: "Aus Worms, wie aus Gießen wird von groben antisemitischen Exzessen gemeldet, welche von Korpsstudenten gegen harmlose jüdische Wirthausbesucher begangen worden sind."      

      
Die Beeidigung der Rekruten wird ohne konfessionelle Trennung vorgenommen (1891)   

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 20. November 1891: "Aus Gießen. Den Lesern dieses Blattes dürfte aus vorigem Jahrgang noch erinnerlich sein, dass ich in einer Immediatvorstellung an Seine Majestät den Kaiser Allerhöchstdenselben untertänigst gebeten habe, befehlen zu wollen, dass die Beeidigung der Rekruten hier nicht mehr, wie der zeitige Oberst angeordnet hatte, in verschiedener Weise (Katholiken und Protestanten in ihren Kirchen, die Israeliten im Kasernenhof), sondern wie vordem immer von allen Konfessionen zusammen unter freiem Himmel geschehen solle, und dass daraufhin auf Allerhöchsten Befehl der Kriegsminister mir erwiderte, es liege in der vom Regierungskommandeur angeordneten Eidesweise kein Verstoß gegen die bestehenden Bestimmungen vor, daher keine Veranlassung genommen werden könne, eine Abänderung des bei dem genannten Regimente beobachteten Verfahrens anzuordnen. Es gereicht mir nun zu großer Freude und hoher Befriedigung, mitteilen zu können, dass gestern die Beeidigung der Rekruten hier wieder in früherer Weise nach Belehrung durch die respektiven Geistlichen von allen gemeinsam unter freiem Himmel stattgefunden hat. Gießen, den 12. November 1891. Rabbiner D. Levi."         

   
(Kleine) Niederlage für die Antisemiten (1891)  

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 5. März 1891: "Gießen, 1. März. Einen erfreulichen Verweis für den Niedergang der antisemitischen Torheit auch in hiesiger Stadt, mag der folgende Vorfall bilden: Eine Wirtschaft, die früher nur von Antisemiten besucht war, scheint bei dieser Sorte Kundschaft ihre Rechnung nicht mehr zu finden. Der neue Unternehmer des Gasthofs teilt nämlich in seinem heutigen Inserate, neben dem Bestreben, die Gäste durch ein gutes Glas Bier erquicken zu wollen, auch noch mit, dass er 'Hetze nicht dulden werde. Gäste seien willkommen, ob Christ oder Jude.'
Man fängt auch endlich hier an, an dem bis zum Überdruss abgenutzten Lügen und Gemeinplätzen der Herren Judenfresser keinen Geschmack mehr zu finden."      

    
Der Gelehrte Carl Vogt äußert sich über den Antisemitismus (1892)  
Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Vogt.      

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 15. Juli 1892: "Gießen, 5. Juli. Carl Vogt, der berühmte Gelehrte, hielt dieser Tage auf einem Bankett, das ihm zu Ehren hier in seiner Vaterstadt gegeben wurde, eine Rede, worin er u. a. sagte: 'Ich habe in allen Ländern, die ich besucht, erkennen müssen, dass die Gefühle für Deutschland im Auslande leider nicht derart sind, wie ich es häufig gewünscht hätte. Machen Sie sich wohl vertraut mit dem Gedanken, meine Herren, dass Deutschland im Auslande nicht geliebt ist, dass Sie im Auslande nicht als Freunde geliebt werden.' Warum? Carl Vogt gibt die Antwort dahin, dass 'nichts so sehr im Auslande verachtet wird als der deutsche Antisemitismus! Man kann es nicht begreifen, dass so ein zivilisiertes Volk, wie das deutsche, ein Volk, das einen Goethe, einen Schiller, einen Lessing besitzt, einen solchen Schandfleck duldet. In England wird der Antisemitismus als ein Niedergang der deutschen Zivilisation betrachtet!'"              

     
Über den "Verein zur Beförderung des Handwerks unter den Israeliten in Oberhessen" (1894)      

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 11. Mai 1894: "Gießen, 4. Mai. Es gereicht mir zur Freude, mitteilen zu können, dass eine Empfehlung des Großherzoglichen Provinzial-Direktors, Freiherr von Gagern (vgl. https://www.lagis-hessen.de/pnd/116337834), zu Gunsten unseres 'Vereins zur Beförderung des Handwerks unter den Israeliten in Oberhessen' an sämtliche israelitischen Gemeinden des Großherzogtums versandt wurde und gute Resultate verspricht. Die Gemeinde Friedberg ist, neben den persönlichen Beiträgen der Mitglieder, mit einem jährlichen Beitrag der Korporation als nachahmungswertes Muster vorangegangen. Am 21. Januar dieses Jahres fand die Generalversammlung des Vereins statt. Die Einnahmen betrugen im Berichtsjahr 1.575 Mark, die Ausgaben 1.229 Mark. – Dem soeben erschienenen zweiten Rechenschaftsbericht ist auch ein Auszug aus den Statuten beigegeben; der § 5 derselben enthält die Bestimmung, dass der Verein seine Zwecke durch Veranstaltung von populären Vorträgen über jüdische Wissenschaft zu erreichen sucht. Leider teilt der Rechenschaftsbericht über diesen Punkt nicht das Geringste mit. – Die Gesamtzahl der vom Verein bisher unterstützten Lehrlinge betrug 12, nach erst zweijährigem Wirken des Vereins gewiss ein ganz anerkennenswertes Resultat. Die jetzige Zahl der Mitglieder betrug 190. Der Verein erstreckt seine Wirksamkeit nicht nur auf Oberhessen, sondern auch auf die benachbarten Gebiete, zu dem die antisemitische Agitation noch immer ihre Orgien feiert."           

 
Erfolgreiche Arbeit des Talmud-Tora-Vereins (1894)   

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 14. Juni 1894: "Gießen, 12. Juni. Bezugnehmend auf die in der Nummer 45 u. 46 des 'Israelit' erschienene Notiz, freut es uns konstatieren zu können, dass die Erfolge des neugegründeten Vereines Talmud-Tora alle Erwartungen übertreffen. Es muss jeden glaubenstreuen Juden umso mehr erfreuen, als der Schein der Tatsachen nicht ganz entspricht. Viel edles Feuer für die Erhaltung der Heiligen Tora glimmte in den Herzen der Gießener Judenheit, und dies brauchte bloß angefacht zu werden, um einer Flamme gleich emporzusteigen. Ein Samenkorn war's bloß, der in den Herzensgrund der hiesigen jüdischen Gemeindemitglieder gestreut wurde und dieser entfaltete sich wahrlich zur schönsten Blüte. Der Eifer für das Torastudium bekundete sich zwar schon gelegentlich der Konstituierung des 'Talmud-Tora-Literatur-Vereines', den lobend hervorzuheben der einzige Hauptzweck des ersten Berichts war, jedoch die verflossenen Festtage berichtigen uns zu den schönsten Hoffnungen für das Gedeihen des Vereins, indem die Beteiligung eine regere und größere war. Nicht bloß von berufener Stelle wird dem Vereine das regste Interesse entgegengebracht, sondern aus allen Schichte der jüdischen Bevölkerung kommen Erklärungen zum Beitritt und Zustimmungsbekundungen. Hier bewährt sich in des Wortes wahrster Bedeutung der Satz 'doch nicht verwitwet soll Israel sein' (Jeremia 51,5) Israel ist und bleibt nie verwaist. Die Tora hat ihre Heimstätte hier nicht ganz verloren, das jüdische religiöse Gefühl, es wurzelte in den Herzen der hiesigen Judenheit, bis es durch die Tat sich jetzt bekundet hat. Wollen wir uns aus vollem Herzen wünschen, dass der hiesige Verein gedeihe und auch anderwärts Verbreitung und Nachahmung finde. Ari."     

  
Gründe für die Abspaltung der Israelitischen Religionsgesellschaft und Hoffnung auf Wiedervereinigung der beiden Gemeinden (1894)  
Anmerkung: der Artikel wird aus Sicht der liberal gesinnten "Allgemeinen Zeitung des Judentums" geschrieben.  

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 7. September 1894: "Gießen, 2. September. Es sind auswärts über die religiösen Gemeindeverhältnisse in Gießen so irrige Meinungen verbreitet, und es ist kürzlich an die Mitglieder der israelitischen Religionsgemeinschaft hier an öffentlicher Stelle die Mahnung ergangen, in ihrer Trennung von der Gemeinde zu beharren, dass es geboten erscheint, eine wahrheitsgetreue Darlegung derselben zu veröffentlichen. Neu in die Religionsgemeinde Eintretende haben, mit Genehmigung der Großherzoglichen Regierung, ein nach ihren Vermögensverhältnissen zu bemessendes, sogenanntes Einzugsgeld zu zahlen oder zu ihrer Gemeindesteuer ein besonderes Synagogen-Standgeld zu entrichten; in welchem letzterem Falle sie damit aber noch nicht ordentliche Gemeindemitglieder werden, denen z.B. aktives und passives Wahlrecht bei Vorstandswahlen zustände. Eins wie das andere wollten sich mehrere Hierhergezogene nicht gefallen lassen; sie gründeten darum für sich eine besondere Religionsgesellschaft mit einem Gottesdienste, die einem Viertel oder Fünftel der Muttergemeinde herangewachsen ist, während diese auch ihrerseits an Mitgliedern zugenommen hat. Hätte der Vorstand seinerzeit die Forderung eines Einzugsgeldes oder eines besonderen Standgeldes fallen lassen, oder auf ein geringes Maß reduziert, es wäre niemandem eingefallen, sich von der Gemeinde zu trennen, ja, es steht nicht zu zweifeln, dass in solchem Falle die Ausgetretenen samt und sonders wieder in dieselbe zurücktreten würden, wie denn das auch bereits von vielen geschehen ist. Und warum auch nicht! Unterscheiden sich doch die Ausgetretenen, wie sie selbst zugestehen, in ihrem religiösen Denken und Tun nicht im Geringsten von den Mitgliedern der Muttergemeinde. Befinden sie sich doch mit ihnen in allen religiösen Hinsichten auf gleicher Stufe und sich nicht um ein Haar mehr orthodox als diese. Ja, Viele meinen sogar, wenn man beide auf eine Wagschale legte, man müsste scharf hinsehen, um zu gewahren, wohin sich das Zünglein neige. Das orthodoxe Mäntelchen, das man von auswärtiger Seite bemüht ist, den Mitgliedern der Religionsgesellschaft umzuhängen, und über das sie selbst gewiss im Stillen lachen, zerfällt bei unserm Betracht in Staub. Und so darf man sich denn auch der sicheren Hoffnung hingehen, dass über kurz oder lang eine Wiedervereinigung beider Gemeinden in eine erfolgen werde, wie es im religiösen Interesse nicht minder wie im pekuniären derselben dringend zu wünschen wäre."        

  
Neun Jahre Israelitische Religionsgesellschaft - ein orthodoxer Rabbiner wird gewählt (1895) 
Anmerkung: der Artikel wird aus Sicht der konservativ-orthodox gesinnten Zeitschrift "Der Israelit" geschrieben.

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 4. April 1895: "Gießen, 3. April. Als vor neun Jahren am hiesigen Platze 30 jüdische Familien zusammengingen, um eine Religionsgesellschaft zu bilden, haben die Gegner derselben behauptet:
Erstens: Ein Boden für das orthodoxe (gesetzestreue) Judentum ist hier nicht vorhanden. -
Zweitens: Die Gesellschaft hat mit der Religion nichts zu tun, die Konstituierung ist nur geschehen, um Geld zu sparen; aus Sparsamkeitsrücksichten sind 30 Familien aus ihrer Muttergemeinde ausgeschieden. -
Nun sind neun Jahre verstrichen! Wenn man gefragt wird. Sind die religiösen Zustände hier seit dieser Zeit besser geworden, oder nicht, so kann jeder, der die jüdischen Verhältnisse vor 9 Jahren kannte und sie jetzt kennt mit bestem Gewissen diese Frage bejahen.-
Vor 9 Jahren war ein Religionsunterricht nicht vorhanden. -
Wenn ein jüdisches Kind Bar Mitzwa (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bar_Mitzwa) wurde; so schrieb man ihm die Paraschah (Wochenabschnitt aus der Tora, vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Parascha), die ein Bar Mitzwa in der Synagoge vortragen soll, mit lateinischen Buchstaben auf – der Knabe musste selbe auswendig lernen – und sie vor dem Sefer Tora  (Torarolle vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Tora#Die_Torarolle) ohne Neginoth (gemeint: ohne die richtigen Betonungen) hersagen.
Die Schechita (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schächten) war in zweifelhaften Händen – Der frühere Schochet (Schächter) hat das Siegel (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Hechscher) an viele Metzger (Fremde, vermutlich gemeint: auch nichtjüdische Metzger) abgegeben und ließ das Fleisch von letzteren zeichnen. –
Wie anders ist das heute!
Die Religionsgesellschaft sowohl wie die alte Gemeinde (unter Rabbiner Dr. Levi) haben junge tüchtige Religionslehrer engagiert. Der Religionsunterricht ist obligatorisch geworden, es gibt hier kein jüdisches Kind, welches nicht am Religionsunterricht teilnimmt.
Die Schechita ist in bewährten Händen, sie ist von beiden Gemeinden dem Religionslehrer der Religionsgesellschaft, einem religiösen und zuverlässigen Manne übertragen worden, und wird gewissenhaft besorgt.
Es hat sich ein Verein für jüdische Literatur und Geschichte gebildet, an welcher sich eine große Anzahl von Juden beteiligt haben, und jeden Samstag wird ein Vortrag über den Wochenabschnitt gehalten.
Nun war unstreitig eine hochwichtige Frage, für die Erhaltung unserer Religion, die Rabbinerfrage.
Das oberhessische Rabbinat, zu dem 108 Gemeinden gehören, ist beinahe das größte Rabbinat in Deutschland und unmöglich kann der großherzogliche Rabbiner (Dr. Benedikt Levi), der im 90. Lebensjahr steht, alles so versehen, wie es wünschenswert ist.
Die Juden der Provinz Oberhessen sind zumeist religiös, sie verlangen, dass ihre Kinder im Glauben ihrer Väter unterrichtet werden, dass der Rabbiner sich um den Religionsunterricht und die Schochetim (Schächter) und um alle Institutionen kümmere.
Es haben sich deshalb im Januar dieses Jahres etwa 50 Vorsteher der Landgemeinden hier versammelt. An der Versammlung nahmen teil die Mitglieder der Religionsgesellschaft, auch beehrten die Versammlung mit ihrer Anwesenheit: Herr Dr. Marx Darmstadt, sowie Herr Dr. Cahn Fulda. Letztere Herren haben durch ihre zu aller Herzen gehenden Reden die Anwesenden begeistert und man fasste den Entschluss, die Mittel für die Anstellung eines gesetzestreuen Rabbiners aus der Versammlung vorläufig durch freiwillige Zeichnungen aufzubringen. Es hat sich zu diesem Zweck ein Kultusverein gebildet. Die von jeher gerühmte Opferwilligkeit der Juden hat sich auch hier bewährt, und man konnte sofort zur Rabbinerwahl schreiten.
Nachdem man sich mit verschiedenen Kandidaten ins Einvernehmen setzte, wurde einstimmig Herr Rabbiner Dr. Leo Hirschfeld gewählt, der von vielen gesetzestreuen Rabbinern empfohlen wurde. Herr Dr. Hirschfeld ist 27 Jahre alt, geborner Deutscher, ein vorzüglicher Redner, beherrscht meisterhaft die deutsche Sprache und besitzt, was die Hauptsache ist, ein hervorragendes jüdisches Wissen. – Auf einen Besseren und Würdigeren konnte die Wahl nicht fallen und es herrscht hier in den Kreisen der Gottesfürchtigen allenthalben die größte und aufrichtigste Freude über die glückliche Requisition. Herr Dr. Hirschfeld hat sofort sein Amt angetreten und ist bereit, seine Kraft in erster Linie der Provinz zur Verfügung zu stellen.
Möge die Wirksamkeit des Herrn Dr. Hirschfeld eine gesegnete sein zum Nutzen und Frommen aller derer, die an Gott glauben und ihn anrufen. "     

     
Gründung eines "Vereines für jüdische Geschichte und Literatur" (1902)    

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 20. November 1902: "Gießen, 19. November (1902). Am 2. dieses Monats wurde dahier ein 'Verein für jüdische Geschichte und Literatur' gegründet, dem bis heute schon über hundert Mitglieder beigetreten sind. Diese rekrutieren sich aus den Mitgliedern der beiden hiesigen Religionsgemeinschaften, der Studentenschaft und den jungen Kaufleuten. Gemäß der in der Generalversammlung vom 16. dieses Monats genehmigten Statuten findet alle 14 Tage ein Diskussionsabend im Vereinslokale und im Laufe des Winters 5-6 Vorträge statt, wozu neben den einheimischen Kräften auch auswärtige Redner berufen werden sollen. So spricht bereits am 23. dieses Monats Herr Landrabbiner Dr. Prager aus Kassel im Saale des 'Hotel Einhorn' dahier. Vorsitzender des Vereins ist Herr Provinzialrabbiner Dr. Sander. Möge der junge Verein blühen, wachsen und gedeihen."      
 
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 24. November 1902: "Gießen, 23. November (1902). Sie berichteten in voriger Nummer Ihres Blattes, dass hier ein Verein für jüdische Geschichte und Literatur begründet wurde, dem auch Mitglieder der hiesigen Religionsgesellschaft beigetreten seien. Wie ich nun von zuständiger Seite erfahre, stehen die leitenden Kreise der hiesigen israelitischen Religionsgesellschaft dem neuen Vereine vollständig fern."      

 
Vortrag im "Verein zur Förderung des Handwerks unter den Juden in Gießen" (1902)     

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 11. Dezember 1902:  "Gießen, 8. Dezember (1902). Im 'Verein zur Förderung des Handwerks unter den Juden in Gießen' hielt gestern Abend Herr Alfred Fröhlich von hier vor einer zahlreich erschienenen Zuhörerschaft einen mit großem Beifall aufgenommenen dreiviertelstündigen Vortrag über das Thema: 'Bedeutende jüdische Frauen in der Geschichte.' Nachdem der Redner einen übersichtlichen Blick auf die Stellung des jüdischen Weibes im Allgemeinen gelenkt hatte, anfügend und mit Beispielen belegend, dass die jüdische Frau zu allen Zeiten als helfende Genossin und nicht als Sklavin auftrat, dass ihr Wirkungskreis stets das Haus war, dass ihr die Pflege und Erziehung der Kinder oblag, dass ihr nicht allein von Seiten des Gatten, sondern auch von Fremden stets besondere Hochachtung gezollt wurde, dass es ihr an aufopfernder Liebe nie gefehlt hatte, dass sie an allen öffentlichen Ereignissen, an den festlichen Versammlungen, ... allgemeinen Wohl und Wege ihres Volkes lebhaft teilnahm, schilderte er die bedeutendsten jüdischen Frauen, die als Fürstinnen, Märtyrerinnen auftraten. Der wirkungsvolle Vortrag wurde zum Schluss reichlich applaudiert und dem Redner namens des Vereins von dessen Vorsitzenden, Herrn Dr. Stamm, öffentlicher Dank ausgesprochen."      

   
Vortrag von Dr. Adolf Kohut im "Verein für jüdische Geschichte und Literatur" (1903)   

Artikel im "Frankfurter Israelitischen Familienblatt" vom 20. März 1903: "Gießen. Im Verein für jüdische Geschichte und Literatur sprach Dr. Adolf Kohut über 'Friedrich den Großen und Kaiser Josef II. in ihren Beziehungen zu Juden und Judentum'. Im 18. Jahrhundert ging den Juden nach tausendjähriger Erniedrigung die Sonne der Humanität auf. Friedrich der Große in Preußen und Kaiser Joseph II. in Österreich beseitigten die Schranken, wodurch der jüdische Stamm in das Kulturleben der Völker eintrat. Der große Staatsmann, Denker und Philosoph Friedrich dem Großen waren alle Religionen gleich. Es gab damals zwei Kategorien von Juden, die sogenannten Ordentlichen, die privilegierten Schutzjuden, welche sich durch 300 bis 500 Taler einen Schutzbrief erwarben und die sogenannten Unordentlichen, über denen stets das Damoklesschwert der Ausweisung schwebte. Friedrich der Große huldigte dem Grundsatze, dass man es nie mit den reichen Leuten verderben solle. Deshalb ernannte er Juden zu Hof- und Finanzmännern, er gab Veitel Ephraim das Recht, Münzen mit seinem Bildnisse zu prägen. Mit der völligen Umgestaltung der politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Zustände der Zeit Friedrich des Großen nahmen auch Handel und Literatur bei den Juden einen Aufschwung, Kunst und Literatur blühten unter ihnen. Die besondere Gunst des 'Alten Fritz' erwarb sich Moses Mendelssohn, der bekannte Philosoph und jüdische Gelehrte. Als er es wagte, die poetischen Erzeugnisse des Königs in einer Zeitschrift zu beurteilen, wurde man bei Hofe neugierig auf diesen Juden. Zur Verantwortung gezogen, verteidigte er sich in Sanssouci also: 'Wer Verse macht, schiebt Kegel, und wer Kegel schiebt, er sei, wer er wolle, König oder Bauer, muss sich gefallen lassen, dass der Kegeljunge sagt, wie er schiebt.' Es bedurfte vielseitiger Verwendung, bis Mendelssohn das Privilegium eines Schutzjuden erhielt, das ist die Versicherung, nicht an jedem beliebigen Tage über die Grenze gewiesen zu werden. Die Berliner Akademie der Wissenschaften schlug Mendelssohn wegen Lösung einer Preisaufgabe und wegen seiner in alle europäischen Sprachen übertragene Schrift: 'Phädon oder die Unsterblichkeit der Seele' zur Aufnahme als Mitglied vor, doch diese scheiterte am König. Friedrich der Große war ein Verehrer der Rabbinen, ein Feind aller Proselyten und Denunzianten. Was Friedrich der Große für die Juden in Deutschland, das war der Kaiser Josef II. für die in Österreich. Josef II. verkündete das Recht der Glaubens- und Gewissensfreiheit, ihm gebührt das Verdienst, den Verschmelzungsprozess des biblischen und traditionellen Judentums mit der modernen Weltanschauung herbeigeführt zu haben. Er schaffte die Abzeichen, die damals die Juden tragen mussten, ab, ebenso den Judeneid, gestattete ihnen das Erlernen von Handwerken, Künsten und Wissenschaften, sowie den Betrieb des Ackerbaues. Die Pforten der Universität öffneten sich für die Juden, die Gründung von Elementar- und Normalschulen wurde angeordnet und alle Ausschreitungen gegen sie vermieden werden. Auch den Leibzoll hob Josef II. auf, ferner, die doppelten Gerichtstaxen, Passagierscheine und alle ähnlichen Bedrückungen. Er verlieh den Juden Auszeichnungen und Charaktererhebungen und kümmerte sich nicht um das Toben der Reaktion. Er ordnete das jüdische Gemeinwesen und ließ 177, zur Zeit einer böhmischen Hungersnot, Gaben an alle Mittellosen, ohne Unterschied der Religion, austeilen. Jüdische Kranke wurden in christlichen Spitälern verpflegt. Josefs II. Initiative ist es zu verdanken, wenn auch andere Fürsten nach ihm den Geist der Humanität predigten. Als man einst Friedrich den Großen auf die Taten Kaiser Josefs II. für die Juden aufmerksam machte, sagte er: 'Es freut mich, daß mein Bruder in Wien so viel Gutes thut, aber ist es nicht seine Pflicht, so zu handeln, da er doch König von Jerusalem ist?' (Josef II. hatte vom Papste den Ehrennamen König von Jerusalem)." 
Anmerkungen: - Dr. Adolf Kohut: https://de.wikipedia.org/wiki/Adolph_Kohut
- Friedrich der Große: https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_II._(Preußen) 
- Joseph II.: https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_II.
- Damoklesschwert: https://de.wikipedia.org/wiki/Damokles
- Hof- und Finanzmänner: https://de.wikipedia.org/wiki/Hoffaktor
- Veitel Ephraim: https://de.wikipedia.org/wiki/Veitel_Heine_Ephraim
- Moses Mendelssohn: https://de.wikipedia.org/wiki/Moses_Mendelssohn
- Sanssouci: https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Sanssouci 
- Schutzjude: https://de.wikipedia.org/wiki/Judenschutz
- Proselyten: https://de.wikipedia.org/wiki/Proselytismus
- Abzeichen: Zwangskennzeichnung von Juden, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Judenstern
- Judeneid: https://de.wikipedia.org/wiki/Judeneid
- Toleranzpatent: https://de.wikipedia.org/wiki/Toleranzpatent
- Leibzoll: https://de.wikipedia.org/wiki/Leibzoll
- Vgl. auch Artikel zur Erinnerung an Wolf Breidenbach von 1914 
      

   
Vortrag von Rabbiner Dr. Leo Hirschfeld im "Verein der Sabbatfreunde" (1906)     

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 23. November 1906: "Gießen. Am 11. des Monats hielt Herr Provinzialrabbiner Dr. Hirschfeld im Verein der Sabbatfreunde einen Vortrag über das Thema 'Talmudisch gelehrte Frauen'. Er besprach in seiner Einleitung Frauenemanzipation, Frauenstudium und gelehrte Frauen im Allgemeinen und ging dann auf sein eigentliches Thema über.
Beim jüdischen Volke finden wir schon in den ältesten Zeiten gelehrte Frauen, die sich natürlich fast durchweg mit dem Torastudium beschäftigt haben. Redner erwähnt zuerst nichtjüdische Frauen, die durch ihre nichtjüdischen Kenntnisse bekannt wurden, wie z.B. die gelehrte Königin Christine von Schweden, die Tochter Gustav Adolfs und in unserer Zeit Rahida Remi (Ruth Lazarus), die bekanntlich auch zum Judentum übertrat. - Bei den Juden beschäftigten sich die Frauen seit den ältesten Zeiten mehr oder weniger mit dem Religionsstudium, um ihren religiösen Pflichten nachgehen zu können. Mehrere Frauen erwarben sich ein großes talmudisches Wissen, trotzdem eifrige Gelehrte – ähnlich den Gegnern der Frauenemanzipation unserer Zeit – sich geäußert zu haben: 'Die Frau braucht nur das Spinnrad zu kennen' und dergleichen. - Die gelehrten Frauen jeder Zeit werden von ihren Zeitgenossen erwähnt und bewundert. Schon in der Bibel ist die Sunnamiterin bekannt, die nach dem Talmud eine große Gelehrsamkeit besaß. Im Talmud werden erwähnt: Beruvia, die Frau des großen Rabbi Meir, die täglich 300 Halachot besprochen haben soll (Berachot, Pessachim) und von der mehrere Gespräche im Talmud enthalten sind. Die Magd des Rabbi Jehuda Hanassi, die den Schülern des großen Rabbi viele schwere Stellen erklärt hatte, und die im Talmud in Gelehrtengesprächen oft als Autorität erwähnt wird. Ebenso die Magd des Rabbi Gamaliel, die aber nicht so populär wie ihre Kollegin ist. Jaltha,die Frau des Rabbi Nachman und a. m. - In späteren Zeiten die schöne Rahel, die Tochter Raschis, die in Abwesenheit ihres Vaters religiöse Entscheidungen fällte und gelehrte Abhandlungen im Hebräischen geschrieben hat, wie Raschi selbst im 'Hapardes'erwähnt. Die Frau des Rabbi Elieser aus Mainz, Verfasser des 'Sefer Hakoach'. Sara, Tochter des R. David Oppenheims, die eine Megilla selbst schrieb, die noch jetzt in Prag an Purim gebraucht wird. (R. E. Flekels in seinen Gutachten), die Mutter Akiba Igars in Posen, Frau Konsul Luzatto in Italien (starb 1871) und mehrere andere.
Zum Schluss besprach der Referent die Zwecke der Sabbat-Vereine und die Wichtigkeit der Frauenmitarbeit für die Sabbatheiligung. - Der Vortrag übte auf die vielen Hörer und Hörerinnen – der Saal war überfüllt – einen tiefen Eindruck aus. M.S."
Anmerkungen: - Christine von Schweden:https://de.wikipedia.org/wiki/Christina_(Schweden) 
- Gustav Adolf:https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_II._Adolf
- Nahida Remi (Ruth Lazarus): https://de.wikipedia.org/wiki/Nahida_Ruth_Lazarus
- Talmud: https://de.wikipedia.org/wiki/Talmud#Babylonischer_Talmud
- Beruvia: https://de.wikipedia.org/wiki/Berurja
- Rabbi Meir: https://de.wikipedia.org/wiki/Rabbi_Meir
- Halachot: https://de.wikipedia.org/wiki/Halacha
- Berachot: https://de.wikipedia.org/wiki/Bracha
- Pessachim: https://www.talmud.de/tlmd/talmud-uebersetzung/pessachim/
- Rabbi Jehuda Hanassi: https://de.wikipedia.org/wiki/Jehuda_ha-Nasi
- Rabbi Gamaliel: https://de.wikipedia.org/wiki/Gamaliel_I.
- Rabbi Nachman: https://de.wikipedia.org/wiki/Rabbi_Nachman
- Rahel: https://de.wikipedia.org/wiki/Rachel_(Tochter_des_Raschi) 
- Raschi: https://de.wikipedia.org/wiki/Raschi
- Hapardes: Jüdische Gesetzestexte von Raschi https://www.sefaria.org/Likkutei_HaPardes
- Rabbi Elieser: https://de.wikipedia.org/wiki/Elieser_ben_Nathan_aus_Mainz
- R. David Oppenheim: https://de.wikipedia.org/wiki/David_Oppenheimer_(Rabbiner)
- Megilla: https://de.wikipedia.org/wiki/Megilla_(Mischna) 
- Purim: https://de.wikipedia.org/wiki/Purim
- R. E. Flekels: https://de.wikipedia.org/wiki/Eleasar_Fleckeles  
    

    
Vortrag von Rabbiner Dr. Cahn (Fulda) im "Verein der Sabbatfreunde" (1907)       

Artikel im "Frankfurter Israelitischen Familienblatt" vom 4. Januar 1907:  "Gießen. Am Sonntag, den 23. Dezember (1906) hielt Herr Provinzialrabbiner Dr. Cahn - Fulda hier im 'Verein der Sabbatfreunde' einen Vortrag über das Thema 'Wissenschaftliches Judentum und jüdisches Wissen', in welchem Redner den ungeheuren Unterschied zwischen den beiden angeführten so ähnlich klingenden Termini, die Entstehungszeit der Reformbewegung und die segensreiche Tätigkeit S. R. Hirsch's für die Erhaltung des orthodoxen Judentums besprach. Dann machte Herr Provinzialrabbiner Dr. Hirschfeld - Gießen Mitteilung von der Errichtung eines Lesesaals des Vereins, wo sich die Mitglieder, besonders die Jugend, zum Lesen jüdischer Zeitschriften und Bücher versammeln werden. M.S."       
Anmerkungen: - Rabbiner Dr. Cahn: vgl. Artikel von 1920 zum Tod von Provinzialrabbiner Dr. Michael Cahn   
- Rabbiner S. R. Hirsch:https://de.wikipedia.org/wiki/Samson_Raphael_Hirsch
- Rabbiner Dr. Hirschfeld:https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Jehuda_Hirschfeld 
    


Generalversammlung des Israelitischen Frauenvereins (1909)   

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 4. März 1909: "Gießen, 21. Februar. Vergangenen Sonntag hielt der Frauenverein 'Einigkeit' im Hotel Zentral seine Generalversammlung ab. Die zweite Vorsitzende, Frau A. Fröhlich, begrüßte die ziemlich zahlreich Erschienenen und gedachte der im vergangenen Jahre verstorbenen Mitglieder, besonders der tatkräftigen und zielbewussten Präsidentin, Frau Bankier Grünewald. Der Verein, der zurzeit 70 Mitglieder zählt, hat auch im vergangenen Jahre zahlreiche Unterstützungen an Bedürftige gewahrt, Kranke und Wöchnerinnen der hiesigen Klinik besucht und unterstützt und den dahier verstorbenen Schwestern die letzten Liebesdienste erwiesen. Besonders hat er sich einer hier wohnhaften russischen Familie angenommen und lässt zurzeit deren künftige Ernährerin, ein junges Mädchen, im Nähunterricht ausbilden. Bei der vorgenommenen Vorstandswahl wurde Frau A. Fröhlich zur Präsidentin, Frau L. Rosenthal zur Stellvertreterin und Frau L. Baer zur Rendantin ernannt."
Anmerkungen: - A. Fröhlich: vgl. Artikel von 1933 zum Tod von Alfred Fröhlich  
- Bankier Grünewald: Jacob Grünewald, Bahnhofstraße 50 https://www.giessener-anzeiger.de/stadt-giessen/handel-im-wallpfoerter-quartier-92639384.html
- Rendantin: Schatzmeisterin  
   

  
Über die Zuschläge auf die Einkommensteuer in den einzelnen jüdischen Gemeinden im Bezirk Gießen (1909)      

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 25. Mai 1909:  "Gießen, 20. Mai. Die israelitische Religionsgemeinden unseres Kreises erheben im Rechnungsjahre 1909 zusammen 24.495 Mk. Umlagen zur Bestreitung ihrer Bedürfnisse. Über zwei Drittel hiervon entfallen auf die Religionsgemeinde Gießen, die 16.500 Mk. erheben, während die übrigen 19 Gemeinden zusammen noch nicht 8.000 Mk. erheben. Den höchsten Zuschlag auf die ganze Einkommenssteuer erhebt die Gemeinde Leihgestern mit 122,84 Prozent (199 Mk.); es folgen der Reihe nach Großen-Buseck 194,346 Prozent (850 Mk.), Watzenborn-Steinberg mit Garbenteich 77,416 Prozent (145 Mk.), Londorf mit Kesselbach, Rüddingshausen und Geilshausen, Obbornhofen mit Bellersheim und Wohnbach 63.688 Prozent (40 Mk.), Lang-Göns mit 60,514 Prozent (40 Mk.), Allendorf a. d. Lumda 50,121 Prozent (600 Mk.), Hungen mit Inheiden und Utphe 48,955 Prozent (1.700 Mk.), Holzheim mit Grüningen 40,436 Prozent (300 Mk.), Steinbach 38,002 Prozent (70 Mk.), Beuern 36,508 Prozent (248 Mk.), Langsdorf mit Birklar 36,205 Prozent (92 Mk.), Alten-Buseck 34,670 Prozent (134 Mk.), Lollar mit Ruttershausen, Mainzlar und Daubringen 29,791 Prozent (150 Mk.), Dreis a. d. Lumda 27,079 Prozent (227 Mk.), Gießen 22,870 Prozent (16.500 Mk.), Reiskirchen 22.267 Prozent (100 Mk.), Wieseck 14,075 Prozent (167 Mk.) und Lich 12,851 Prozent (247 Mk.)."    

  
Der antisemitische Kandidat in Gießen siegt bei der Reichstagswahl (1911)  

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 31. März 1911: "Die Reichstagswahl in Gießen hat mit einem Siege des antisemitischen Kandidaten geendet. Das ist überaus traurig. Ob die Nation liberalen dieses bedauernswerte Resultat verschuldet, ob, wie es scheint, etwa 1.000 Anhänger der wirklich freisinnigen Partei zu dem Siege des Antisemiten beigetragen haben, oder ob die Sozialdemokraten, infolge mangelhafter Organisation, nicht alle auf dem Platz waren – dies zu unterscheiden ist unsere Aufgabe nicht; wir haben es nur auf das Lebhafteste zu bedauern, dass eine Partei, gegen die wir uns aufs Allerschärfste wenden müssen, ein Mandat wiedererlangt hat, von dem man hoffen konnte, dass es ihr entrissen war." 
Anmerkung: - Nationalliberalen: https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalliberale_Partei
        

  
Aus der Gießener Medizinerschaft sollen alle jüdischen Personen ausgeschlossen werden (1919)   

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 19. Dezember 1919: "Aus Gießen wird uns berichtet: Die hiesige Medizinerschaft, welche den größten Teil der Studenten der medizinischen Fakultät an der hiesigen Universität umfasst, hat beschlossen, alle Angehörigen der semitischen Rasse aus der Gießener Medizinerschaft auszuschließen. Diese Resolution ist eine Folge der skrupellosen antisemitischen Hetze unter den Studenten, die vor etwa einem halben Jahr hier eingesetzt hat. Bereits im Oktober wurden in einem medizinischen Universitätsinstitut antisemitische Hetzblätter verteilt, gegen deren Verbreiter ein Verfahren eingeleitet wurde."      

  
Jüdische Schüler werden belästigt, Fenster jüdischer Wohnungen und der Synagoge werden eingeworfen (1920)  

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 29. Januar 1920: "Gießen, 2. Januar (1920). Die Gießener israelitische Religionsgesellschaft richtete ein Anschreiben an den Magistrat, in dem sie sich über das ungezogene Benehmen der Schüler der Gießener höheren Lehranstalten gegen die jüdischen Mitschüler und die Verrohung, die sich in der Zertrümmerung der Fenster jüdischer Wohnungen und Gotteshäuser kundtut, beschweren. Der Oberbürgermeister erklärte, dass die Stadtverwaltung für die Abstellung der Missstände unzuständig sei, dass aber ein Einschreiten der zuständigen Stellen geboten erscheine."      

  
Vortrag von Rabbiner Dr. Dienemann vor dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (1921)   

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 21. Januar 1921: "Gießen, 14. Januar. Die Ortsgruppe Gießen des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten trat zum ersten Male mit einem Vortragsabend an die Öffentlichkeit. Herr Rabbiner Dr. Dienemann (Offenbach) sprach über das Thema: 'Die deutschen Juden nach dem Kriege.' In begeisterten und von hohem sittlichen Ernste getragenen Worten schilderte er die gegenwärtige Lage der deutschen Juden und sprach von deren Rechten, aber auch von ihren Pflichten. Seine Ausführungen wurden von dem zahlreich erschienenen Publikum mit großem Beifall aufgenommen. An der Aussprache beteiligten sich außer den Vertretern der beiden hiesigen jüdischen Verbindungen und einigen anderen Herren auch Herr Rabbiner Dr. Sander. Mit dem Danke an den Herrn Referenten und an die Diskussionsredner schloss der Vorsitzende, Herr Lehrer Otto Grünebaum, die Versammlung. - Die Ortsgruppe darf mit Genugtuung auf den ersten öffentlichen Abend zurückblicken." 
Anmerkungen: - Reichsbund jüdischer Frontsoldaten: https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsbund_jüdischer_Frontsoldaten
- Rabbiner Dr. Dienemann: https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Dienemann
- Rabbiner Dr. Sander: https://de.wikipedia.org/wiki/David_Sander 
       

  
Der Landtag von Hessen beschäftigt sich mit den antisemitischen Exzessen an der Universität Gießen (1921)            

Artikel im "Frankfurter Israelitischen Familienblatt" vom 30. Juni 1921: "Gießen. Dem Landtage des Volksstaates Hessen ist unter Bezugnahme auf die antisemitischen Exzesse an der Universität Gießen folgende Anfrage der Abgeordneten Bauer und Genossen zugegangen: 'Das rüpelhafte Verhalten gewisser Studentenkreise in Gießen und das unerhörte Verhalten der Senatsbehörde in Gießen, bei der im Anschluss an den Fall des jüdischen Studenten Falkenstein in Gießen getroffenen disziplinarischen Entscheidung, ist geeignet, das Ansehen der Gießener Hochschule zu schädigen. Was gedenkt die Regierung zu tun, um diese Missstände zu beseitigen und damit eine weitere Schädigung des Ansehens der Gießener Hochschule zu verhindern?'"          

 
Gemeindeveranstaltungen im Winter 1921/22 (1921)   

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 23. Dezember 1921: "Gießen, 16. Dezember. In unserer Gemeinde hat sich im Laufe des Winters ein recht reges Leben entwickelt. Eingeleitet wurde das Semester durch eine Abendunterhaltung, die die Ortsgruppe Gießen des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten veranstaltete. Die ganze Feier war dermaßen großzügig angelegt, dass sie noch lange im Gedächtnis der Teilnehmer lebendig bleiben wird. Am Sonntag, den 4. Dezember, hatte der Frontbund einen wissenschaftlichen Abend. Herr Universitätsprofessor Dr. Kinkel sprach über Volk, Rasse und Menschheit. Seine tiefgründigen Ausführungen fesselten die Teilnehmer derart, dass stürmischer Beifall dem Redner gezollt wurde. An der ebenfalls sehr interessanten Aussprach beteiligten sich Herr Rabbiner Dr. Sander, Herr Dr. Steinreich und Herr Dr. Smoira. Der Vorsitzende der Ortsgruppe, Herr Lehrer Grünebaum, dankte allen Rednern des Abends und wies darauf hin, dass demnächst ein weiterer wissenschaftlicher Abend folgen soll. Auch der Synagogengesangverein wird demnächst mit einer Veranstaltung hervortreten und den Beweis erbringen, dass er außer seinen gottesdienstlichen Aufgaben auch die Geselligkeit zu pflegen weiß."
Anmerkungen: - Reichsbund jüdischer Frontsoldaten: https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsbund_jüdischer_Frontsoldaten 
Rabbiner Dr. Sander: https://de.wikipedia.org/wiki/David_Sander  
      

  
Vortrag von Oberkantor Magnus Davidsohn in der Synagoge (1922)   

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 17. März 1922:  "Gießen, im März. Eine Weihestunde war es, die Oberkantor Magnus Davidsohn aus Berlin vor kurzem seinen zahlreich erschienenen Zuhörern in unserer Synagoge bereitete. Sein kraftstrotzendes, imposantes Stimmmaterial, das in dem von ihm zum Vortrag gebrachten hebräischen und deutschen Gesängen voll zur Geltung kam, nahm sofort gefangen und eroberte sich im Sturm die Herzen der Zuhörer. Davidsohn ist aber nicht nur Sänger, er ist auch geschmackvoller Rezitator, wie er es in den Melodramen 'Abraham' und 'Die Sage von Rabbi Ammon' bewies. Hatte das andächtig lauschende Publikum seinem Gefallen öffentlich Ausdruck geben dürfen, Davidsohn wäre bestimmt mit Beifall überschüttet worden.
Lobend gedacht sei auch des Musikdirektors Großjohann, der die harmoniale Begleitung des Sängers mit seinem musikalischen Empfinden ausübte, in dessen Hand aber auch die Begleitung des Herrn Kapellmeisters Siefke lag, der sich seiner Violinvorträge mit Geschick entledigte. Namentlich sei hier der Wiedergabe von Mendelssohns 'Kol Nidre' gedacht. Die Veranstaltung war ein voller Erfolg."
Anmerkungen: - Oberkantor Magnus Davidsohn:http://info-netz-musik.bplaced.net/?cat=4558
- Mendelssohn: Gemeint ist Ludwig Mendelssohn, 1858 -1921.  
- Kol Nidre: https://de.wikipedia.org/wiki/Kol_Nidre 
     

     
40-jähriges Bestehen der Israelitischen Religionsgesellschaft (1927)      

Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck" vom 21. Januar 1927: "Gießen. Vierzigjähriges Bestehen der Israelitischen Religionsgesellschaft. Am 15. Januar feierte die (orthodoxe) Religionsgesellschaft ihr vierzigjähriges Jubiläum. Am Vormittag wurde ein Festgottesdienst in der feierlich hergerichteten Synagoge abgehalten. Später kam man zu einer Abendveranstaltung, wobei Herr S. Joseph zum Ehrenmitglied und Herr Hofrat J. Grünewald zum Ehrenpräsidenten ernannt wurden. Beide Herren sind von den Gründern der Gemeinde die einzigen Überlebenden. Hofrat Grünewald kann sogar auf eine dreißigjährige Tätigkeit als Vorsitzender zurückblicken. Der Gottesdienst der Gemeinde wurde zuerst in einem gemieteten Lokal abgehalten. Eine eigene Synagoge wurde 1899 eingeweiht." 
Anmerkungen: - J. Grünewald: Bankier und Hofrat Jakob Grünewald, Bahnhofstraße 50 
- Gründern der Gemeinde: Die Gründung der Israelitischen Religionsgesellschaft fand 1886 statt, siehe Bericht von 1886 
. eine eigene Synagoge: Steinstraße 8, Nordanlage      
 

      
Das Lektorat für rabbinische Wissenschaften an der Universität soll wieder eingerichtet werden - 60-jähriges Bestehen der Synagoge der Religionsgemeinschaft - Zum Tod von Justizrat Dr. Katz  (1927)       

Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck" vom 13. Mai 1927:  "Gießen. Vor drei Jahren ging an der hiesigen Universität das Lektorat für rabbinische Wissenschaften, das zuletzt Dr. Weinberg innehatte, aus Mangel an den nötigen Mitteln ein. Rabbiner Dr. Sander bewirkte, dass der hessische Landesverband 2.000 Mark, der württembergische100 Mark und der bayrische 300 Mark bewilligte. Auch trat man an den Preußischen Landesverband heran, mit dem Hinweis, dass es sich nicht um eine speziell hessische, vielmehr um eine Angelegenheit der gesamten Judenheit handle, die allen in Gießen Studierenden zugute käme. - Am 6. Juni begeht die Religionsgemeinschaft die Feier des 60jährigen Bestehens der 1867 erbauten Synagoge, die 1892 beim 25jährigen Jubiläum noch eine Vergrößerung erfuhr. Aus diesem Anlass findet ein Festgottesdienst statt. - Kürzlich verstarb hier Justizrat Dr. Katz. Der Verstorbene war der erste Jude, der in Hessen zum Notar ernannt wurde. Er war ein hervorragender Jurist, besonders geschätzt als Kriminalverteidiger." 
Anmerkungen: - Dr. Weinberg: https://de.wikipedia.org/wiki/Jechiel_Jaakov_Weinberg
- Rabbiner Dr. Sander: https://de.wikipedia.org/wiki/David_Sander     

   
Verworfene Revision des Nationalsozialisten Haselmeyer - Renovierung des Gemeindehauses der Religionsgemeinde (1927)     

Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck" vom 20. Mai 1927:  "Gießen. (Verworfene Revision des Hakenkreuzlers Haselmeyer). Die Strafkammer Gießen verurteilte seinerzeit den Journalisten Haselmeyer (Frankfurt, jetzt Erlangen) zu zwei Monaten Gefängnis wegen Vergehens nach § 8,1 des Republikschutzgesetzes, sowie nach § 130 Strafgesetzbuch (Aufreizung zum Klassenhass). Der Angeklagte hatte in einer erregt verlaufenden Versammlung in Hungen die Republik einen 'Saustall' genannt, die mit Gewalt von den Juden gereinigt werden müsse. Er hatte aufgefordert, die Juden zu beseitigen, da sie einer Spinne gleichend ihre Netze überall hin ausbreiteten und alles auslaugten. Sie schändeten deutsche Frauen und Mädchen, und das einzige Mittel gegen sie bestehe darin, sie, wie die Drohnen im Bienenvolke, mit Gewalt zu beseitigen. Der üble Hetzer muss nun wohl oder übel seine Gefängnisstrafe abbrummen, da die dritte Instanz, der erste Strafsenat des Reichsgericht die Revision kostenpflichtig verwarf. - Renovierung des Gemeindehauses. Das Gemeindehaus der Religionsgemeinde wurde gründlich renoviert. Der Betsaal in nüchterner Art der neunziger Jahre gehalten, wurde stilvoll mit lebhaften Farben dekoriert."      

  
An den Universitätskliniken soll eine Koscherküche eingerichtet werden und andere Mitteilungen (1927)      

Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck" vom 3. Juni 1927:  "Gießen. Bei der letzten Sitzung des Oberrates des hessischen Gemeindeverbandes in Mainz wurde mitgeteilt, dass die in der Umgebung Gießens liegenden Gemeinden Wieseck und Laubach (statt: Lanbach) dem Verband beigetreten sind. Weiter wurde Herr Rabbiner Dr. Sander beauftragt, die in Verfall geratenen geschlossenen Friedhöfe Oberhessens zu besichtigen und nötigenfalls, soweit es möglich ist, für Abhilfe zu sorgen. Außerdem wurden die Mittel zur Besoldung einer Köchin bewilligt, die an einer noch zu errichtenden Koscherküche in den Universitätskliniken angestellt werden soll. Da hier aus ganz Hessen jüdische Patienten zusammenkommen, ist eine koschere Verpflegung unbedingt nötig. Dementsprechend trat man an das Landesamt für das Bildungswesen in Darmstadt heran, bei dem die Entscheidung liegt."
Anmerkungen: - Rabbiner Dr. Sander: https://de.wikipedia.org/wiki/David_Sander
Koscher: https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCdische_Speisegesetze      

  
Kinderkostümfest des Israelitischen Frauenvereins (1928)      

Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Wiesbaden und Umgebung" vom 17. Februar 1928: "Gießen. Sonntag, den 12. Februar, veranstaltete der Israelitische Frauenverein ein wohlgelungenes Kinderkostümfest als Vorfeier für Purim auf der Liebigshöhe. Der Besuch von groß und klein war ein außerordentlich zahlreicher. Ungefähr 130 Kinder wurden mit Kaffee und Kuchen bewirtet. Zuerst wurde ein Prolog gesprochen. Dann folgten sehr gut einstudierte Tänze verschiedener Art in besonders netten Kostümen. Die Jazzkapelle bestand aus 14-jährigen Buben, die alle durch ihre fidele Musik erfreuten, zu der auch die größere und kleinere Jugend fleißig tanzte."     
Anmerkung: - Purim: https://de.wikipedia.org/wiki/Purim     
  
Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck" vom 17. Februar 1928: derselbe Text wie oben.  

    
Landeskonferenz der jüdischen Lehrerschaft Hessens in Gießen (1929)     

Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck" vom 17. Mai 1929: "Gießen. Am Donnerstag fand hier eine Landeskonferenz der jüdischen Lehrerschaft des Voksstaates Hessen statt. Bei einer öffentlichen Veranstaltung, die von sämtlichen jüdischen Vereinen Gießens mit einberufen war, sprach der Bundesvorsitzende M. Steinhardt aus Magdeburg über die Krisis in der deutschen Judenheit. Er ging dabei ganz besonders auf die jüdische Bevölkerungspolitik ein, die heute zum Schicksal der deutschen Judenheit geworden ist. Die Landeskonferenz beschloss dann den Anschluss an den deutschen Reichsverband. Im hessischen Lehrerverein sind sowohl die Orthodoxen als auch die Liberalen vertreten. Die beiden Gießener Gemeinden bereiteten den Lehrern einen herzlichen Empfang und gaben ein großes Festessen."   

 
Vortragsabend über Palästina  -  Wahlen in der orthodoxen Religionsgesellschaft (1929)      

Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck" vom 16. August 1929: "Gießen. Vor den hiesigen Zionisten sprach am Montagabend der gerade aus Palästina kommende revisionistische Führer Z. Levanon. Er berichtete über die Vorgänge im Heiligen Land und die nach seiner Meinung notwendigen Maßnahmen. Die Ausführungen Z. Levanons fanden unter anderem auch bei der Gießener Presse eingehende Würdigung. - Die orthodoxe Religionsgesellschaft wählte am vergangenen Sonntag ihre Vorstände nach der neuen Wahlordnung, die jüngst mit der neuen Verfassung in Kraft getreten ist. Zu Vorstandsmitgliedern wurden ernannt: A. Fröhlich, L. Sondheim, S. Wetterhahn, J. Mendel, F. Baer; zu Beiratsmitgliedern: F. Austerlitz, S. Joseph, J. Grünewald, F. Loeb, Dr. L. Rosenthal."
Anmerkungen: - Palästina: https://de.wikipedia.org/wiki/Völkerbundsmandat_für_Palästina
- F. Austerlitz: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de835291  Frankfurter Straße 11
- J. Grünewald: Bankier und Hofrat Jakob Grünewald, Bahnhofstraße 50
- Dr. L. Rosenthal: Dr. Ludwig Rosenthal, Alicenstaße 40, geb. am 29.06.1900 in Philippstein  https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de954279     

  
Mendelssohnfeier der liberalen Religionsgemeinde (1929)     

Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck" vom 13. September 1929:  "Gießen. Die liberale Religionsgemeinde hielt am Sonntag in der Synagoge eine von allen Teilen der Gießener Bevölkerung stark besuchte Mendelssohnfeier ab. Herr Rabbiner Dr. Sander hielt die Festrede. Künstlerische Darbietungen gaben der Feier den würdigen Rahmen. - Es ist verwunderlich - darin ist sich auch die hiesige Lokalpresse einig, dass die Universität Gießen in keiner Weise von dem 200. Geburtstag Mendelssohns Notiz genommen hat. Bei der jüdischen Feier war sie nicht vertreten." 
Anmerkungen: - Mendelssohn: https://de.wikipedia.org/wiki/Moses_Mendelssohn
Rabbiner Dr. Sander: https://de.wikipedia.org/wiki/David_Sander     

  
Abendveranstaltung des Jüdischen Jugendbundes (1929)      

Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck" vom 6. Dezember 1929: "Gießen. Am vergangenen Sonnabend trat zum ersten Mal der Jüdische Jugendbund, der die gesamte jüdische Jugend Gießens zusammenfasst, mit einer größeren Abendveranstaltung an die Öffentlichkeit. Fast die gesamte jüdische Bevölkerung war vertreten und brachte durch ihr äußerst zahlreiches Erscheinen ihre Sympathie mit der nunmehr geeinten Jugend zum Ausdruck. - Am 29. November ist einer der angesehendsten jüdischen Bürger unserer Stadt, Herr Carl Frensdorf, im Alter von 59 Jahren gestorben. Er war der Inhaber des größten Herrenbekleidungshauses am Platze. Als Vorsitzender des Gießener Verkehrsvereins hat er durch eine eifrige ehrenamtliche Tätigkeit sich für die Stadt große Verdienste erworben. Ferner war er Vorsitzender für die Gaue Hessen und Hessen-Nassau des Reichsverbandes für Herrenbekleidung, in dessen Reichsvorstand er sich befand. Am Montag fand unter einer großen Beteiligung der Bevölkerung, der Behörden, der Reichswehrgarnison usw. die Beisetzung statt."
Anmerkungen: - ...gesamte jüdische Jugend: Das bedeutet orthodoxe und liberale Jugendliche
- Reichswehr: https://de.wikipedia.org/wiki/Reichswehr
- Höchstwahrscheinlich hatte Carl Frensdorf auch als patriotischer Deutscher auch im Ersten Weltkrieg gedient      

    
Erfolge der Nationalsozialisten bei den Wahlen der Gießener Studentenschaft - antisemitischer Vorfall gegen das Gießener Stadttheater in Alsfeld (1930)     

Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck" vom 12. März 1930:  "Gießen. Die Wahlen zur Kammer der Gießener Studentenschaft (im Volksstaat Hessen besitzen die Studentenschaften noch die staatliche Anerkennung und dürfen Zwangsbeiträge einziehen) brachten die Nationalsozialisten auf einen Schlag neun Sitze von den insgesamt 25 ein. Die Republikaner erhielten 4 (4) Sitze, die Großdeutschen diesmal nur 12 (21) Sitze. Die nationalsozialistische Hetzpropaganda hat mit ihrer Presse und den Flugblättern, die in der Universität verteilt wurden und die in bekanntem, keinesfalls akademischem Ton über Juden und Judengenossen herzogen, ihre Schuldigkeit getan. - Wie uns von der Intendanz des Gießener Stadttheaters mitgeteilt wird, hat die nationalsozialistische Propaganda auf dem flachen Land auch schon dem Gießener Theater zu unliebsamen Zwischenfällen verholfen. Ein bezeichnender Vorfall am letzten Sonntag: das Gießener Ensemble, unter dem sich auch einige Juden befinden, gibt es Alsfeld ein Gastspiel. So oft nun die jüdische Künstlerin Frl. Heß auftrat, wurde aus einer bestimmten Ecke von einigen Zuschauern gezischt und gepfiffen. Es stellte sich heraus, dass es Nationalsozialisten waren, die unter der Anführung eines Gießener Studenten bewusst störten und ruhig angaben, dass sie allein das Auftreten einer jüdischen Schauspielerin dazu veranlasse. Als Frl. Heß zu Beginn des nächsten Aktes wieder auftrat, gab das Publikum den Störenfrieden, denen man inzwischen das Handwerk gründlich gelegt hatte, die rechte Antwort: Ein spontaner Beifall setzte auf offener Szene ein. Bürgermeister Völsing sprach dem Ensemble sein aufrichtiges Bedauern über den Vorfall aus." 
Anmerkungen:  - Studentenschaft: https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Studentenschaft 
- Großdeutschen: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Großdeutsche_Volksgemeinschaft_(GVG),_1924/25  
- Bürgermeister Völsing: Dr. Karl Völsing       

    
Die jüdischen Pferdehändler sind vom Pferdemarkt ausgeschlossen (1933)   

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 28. September 1933: "Keine Juden auf dem Gießener Pferdemarkt. Gießen, 25. September
Am 27. September fand hier der Herbst-Pferdemarkt statt. Auf diesem Markte nahmen keine Juden teil, da nach der Anordnung der Bürgermeisterei Nichtarier ausdrücklich vom Besuch des Marktes ausgeschlossen sind. Wie vom Viehhandel überhaupt ernährten sich bisher viele Juden in den hessischen Landgemeinden, speziell vom Pferdehandel. Diesen soll jetzt, wenn Gießen Schule macht, die Pferdemärkte geschlossen werden."    

  
Vortrag von Rabbiner H. Mayer aus Frankfurt in der Israelitischen Religionsgesellschaft (1934)   

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 14. Juni 1934: "Gießen, 10. Juni. Seit dem Hinscheiden unseres noch in aller Erinnerung stehenden verewigten Provinzialrabbiners Dr. L. Hirschfeld sel. A. war es zum ersten Mal, dass eine orthodoxe Organisation es uns ermöglicht hatte, wieder einmal aus berufenem Munde den Geist zu vernehmen, von dem das Wirken des Verewigten beseelt war. Wie groß das Bedürfnis nach einem belehrenden Worte in den Kreisen der jüdischen Bevölkerung Gießens vorhanden ist, erwies die über Erwarten große Beteiligung bei dem Vortrag, den am Samstag, den 2. Juni die 'Freie Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums' in der Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft veranstaltet hat. Herr Rabbiner H. Mayer, Frankfurt a. M., der als Sprecher dieser Organisation aufgetreten ist, verstand es, in meisterhafter Rede die Probleme aufzurollen, die die Gegenwart an jeden jüdischen Menschen stellt, wenn er die Zeichen der Welt verstehen will. Wenn auch nicht jeder der Zuhörer sofort fähig gewesen sein dürfte, die praktischen Konsequenzen, die von ihm verlangt wurden, zu ziehen, so sind wir doch davon überzeugt, dass gerade die heutige Zeit dazu angetan sein dürfte, durch Wiederholung derartiger Veranstaltungen, die sich aber auch auf das Flachland unseres verwaisten Rabbinatsbezirkes ausdehnen müssten, dem religiösen Leben Oberhessens einen starken Impuls zu vermitteln."    

  
Kundgebung des "Misrachi" (1935)   

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 5. Dezember 1935:  "Gießen, 25. Nov. In Gießen veranstaltete der 'Brith Hanoar schel Zeire Misrachi' am Sonntag, 24. November eine Kundgebung in der Arieh Händler, der Leiter des Galil Süd, über das Thema 'Weg der jüdischen Jugend' sprach. Er legte in klaren Worten das Streben und das Programm des Misrachi dar. Seine Ausführungen fanden ungeteilten Beifall der in großer Zahl Erschienenen. Darauf wurde der Bildbericht 'Wir vom Bachad' gezeigt. Arieh Händler begleitete den Film mit näheren Erklärungen, während ein Chor des Brith Hanoar unter Leitung von Herrn Lehrer Neumann passende Lieder zu den Bildern sang. I. F."
Anmerkungen: - Misrachi: https://de.wikipedia.org/wiki/Misrachi
- Arieh Händler: https://www.juedische-allgemeine.de/israel/der-letzte-gruender/
- Bachad: https://de.wikipedia.org/wiki/Bachad
- Brith Hanoar: https://de.wikipedia.org/wiki/Betar
- Lehrer Neumann: vgl. Artikel zu Lehrer Emil Neumann von 1931
    

   
Gemeindebeschreibung von 1936    

Artikel im "Gemeindeblatt der Israelitischen Gemeinde Frankfurt" vom Oktober 1936 S. 29: "Gießen.
Hauptstadt von Oberhessen, einzige Universität, des Landes Hessen, 36.000 Einwohner, 700 Juden. Schon 1150 erwähnt, erhält Gießen 1250 Stadtrecht, kommt 1265 an Hessen-Kassel, schon 1604 an Hessen-Darmstadt. - Erste Nachricht von Juden ist die Verfolgung von 1349. Im 16. Jahrhundert versucht ein jüdischer Arzt in Gießen zu praktizieren. Da der Pfarrer seinen Patienten kirchliche Strafen androht, versucht er es mit einem Kramhandel, muss aber schließlich, ums sich zu ernähren, Geldgeschäfte machen! 1622 zählt die Gemeinde Gießen 23 Familien, die jahrzehntelang unter dem Bekehrungseifer der evangelischen Mission schwer zu leiden haben, 1662 vertrieben, aber 1708 wieder zugelassen werden. Das Verhältnis der Bevölkerung zu den Juden gestattet, dass die (Philipps-)Universität als erste Deutschlands jüdische Studenten immatrikuliert. In der ersten Hälfte dieses 18. Jahrhunderts hat die Gemeinde schon einen Rabbiner: Michael Berr, der eine Verordnung gegen den in der Gemeinde herrschenden Unfrieden erlässt! 1820 kann jeder inländische Jude, der mindestens 4.000 Gulden besitzt, Bürger werden. 1827 wird Dr. Abraham Wolf Rabbiner, der spätere Rabbiner von Kopenhagen. Sein Nachfolger ist Dr. Levi, der aus Mainz kommt und Provinzialrabbiner wird. Sein Sohn Hermann Levi, 1839 geboren, wird der musikalische Vertraute Richard Wagners, der erste Dirigent der Bayreuther Festspiele und leitet die Uraufführung des 'Parsival' 1882. - Am 15.8.1861 wird Henriette Fürth, die Frankfurter Sozialschriftstellerin und Kämpferin für die Rechte der Frau, in Gießen geboren. - Gießen ist Sitz eines liberalen und eines orthodoxen Provinzialrabbinats. Das erstere bekleidet Dr. Sander, Rabbiner der Israelitischen Religionsgemeinde; das andere mit der Israelitischen Religionsgesellschaft verbunden, ist seit dem Hinscheiden des Rabbiners Dr. Hirschfeld s. A. unbesetzt. - Liberale Synagoge stattlicher maurischer Bau mit Gemeindehaus, gegenüber dem Theater; die ebenso stimmungsvolle, orthodoxe Synagoge, Steinstraße 15. Jüdische Leihbücherei und Buchhandlung Michel, Bleichstraße 28. Restaurant Grünewald, Mühlstraße. Sehenswert: Marktplatz mit altem Rathaus und der alten Hirsch-Apotheke, das Burgmannen-Haus, Kirchstraße; die 'neue Bäue', das Weiselsche Haus, Sonnenstraße, mit köstlichen Schnitzereien an der Hofseite; zahlreiche neue Bauten, Anlagen und Promenaden auf geschleiften Festungswerken. - Beachtenswerte Tabak- und Zigarrenindustrie sowie Eisengießereien. - Schöne Ausflüge: Zum Gleiberg, zum Dünsberg (500 m, herrliche Aussicht) usw."
Anmerkungen: - Hessen-Kassel: https://de.wikipedia.org/wiki/Haus_Hessen#Hessen-Kassel_und_Nebenlinien
- Hessen-Darmstadt: https://de.wikipedia.org/wiki/Landgrafschaft_Hessen-Darmstadt
- Rabbiner Dr. Abraham Wolf: https://www.lagis-hessen.de/pnd/104155760
- Dr. Levi: https://de.wikipedia.org/wiki/Benedikt_Levi  https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/bio/id/3317
- Hermann Levi: https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Levi  vgl. Bericht von 1933 
- der erste Dirigent: Der erste Dirigent der Festspiele war Hans Richter https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Richter_(Dirigent), dem aber nicht so ein großer Erfolg vergönnt war, wie seinem Kollegen Hermann Levi.
- Parsival: https://de.wikipedia.org/wiki/Parsifal
- Henriette Fürth: https://de.wikipedia.org/wiki/Henriette_Fürth  http://www.frankfurterfrauenzimmer.de/ep10-detail.html?bio=df
- Rabbiner Dr. Sander: https://de.wikipedia.org/wiki/David_Sander
- Rabbiner Dr. Hirschfeld: https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Jehuda_Hirschfeld
- s. A.:https://de.wikipedia.org/wiki/Z%22l
- Jüdische Leihbücherei und Buchhandlung Michel: https://www.giessen.de/index.php?ModID=7&FID=2874.1207.1&object=tx%7C2874.1207.1
- Hirsch-Apotheke: https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/xsrec/current/137/sn/bd?q=YToxOntzOjU6InNhY2hlIjtzOjg6IkZhc3NhZGVuIjt9
- Restaurant Grünewald: vgl. Anzeige von 1906 
- Burgmannen-Haus: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/AW4TTT6PEATHSYABBLIIASUXEGC4S6HB 
- Neue Bäue: https://www.giessen.de/Rathaus/Newsroom/Aktuelle-Meldungen/Neuen-B%C3%A4ue-wird-zur-Fahrradzone.php?ModID=255&FID=2874.37847.1 
- Weiselsche Haus: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/UUBYQPC3CWJAN7QU3K4NCDTIUARFVISS      

   

   

   

   

   

 

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Stand: 30. Juni 2020